Denn sie müssen, was sie tun
An einem dieser prächtigen Septembertage legte ich mich über Mittag an die Sonne. An jedem dieser Tage, kaum war man sich im Klaren, dass er von Licht erfüllt sein würde, nahm man, so gut es ging, die letzte Chance wahr, die Haut mit etwas Sonne für Herbst und Winter zu stärken. So lag ich da, ausgestreckt auf dem Liegestuhl, die Klatsche in Griffnähe, um mir die Stimmung nicht durch Fliegen verderben zu lassen.
Plötzlich tauchte eine Wespe auf. Ein seltener Anblick, auch wenn die Jahreszeit stimmt, denn die Früchte liegen jetzt am Boden, jetzt müsste man auf die typischen Herbststillleben stossen, auf gelbbräunliches, faulendes Obst, an dem sich die gelbschwarz gestreifte Wespe, der dunkelrot-bräunliche Admiralfalter und der rostbraune Kleine Fuchs zu schaffen machen. Massenweise sind die Wespen dieses Jahr nicht aufgetreten. Aber eine Wespe ist eine Wespe, auch wenn sie allein auf Kriegspfad fliegt.
Vielleicht ist das ja gar keine Wespe, dachte ich. Es gibt auch Schlaumeier, die sich als Wespen tarnen, um Feinde abzuschrecken. Dickkopffliegen zum Beispiel, bei ihnen passt nicht nur die Farbe, auch die Wespentaille führen sie; und dann gibt es bei den Schwebfliegen einige Arten, die Wespen gleichen, und andere, die im Bienenkostüm durch die Lüfte schwirren.
Die Wespe landete auf meinem Unterschenkel und bezog Position. Ich wartete ebenfalls ab. Wer weiss, dachte ich, ist sie nun, was sie vorgibt, oder ist sies nicht? Ruhe vor dem Sturm, dachte ich und überlegte, wie bedauernswert dieses Insekt eigentlich ist, welch schlechtes Image an ihm haftet. Als Gott die Biene geschaffen hatte, so geht die Legende, wollte ihn der Teufel kopieren und bastelte die Wespe – ein satanisches Vieh, das weder Honig noch Wachs abgibt, aber alle Welt tyrannisiert. Dabei ist das, was nach anarchistischer Freiheit klingt, das pure Gegenteil, der reine Zwang, denn die Wespe kann nicht tun, was sie will, sondern, was sie muss; Waben bauen und Nachwuchs versorgen. Sie ist eine Sklavin ihres Staates. Also lassen wir es vorurteilslos zur Begegnung kommen.
Ich sah dem Treiben des Tieres weiter zu und konnte mich nicht festlegen, ob echt oder falsch. Dann griff ich zur Fliegenklatsche und wedelte damit über meinem Unterschenkel. Ich brauchte sie ja nicht totzuschlagen, nur in die Flucht zu jagen. Die Wespe hob ab, entschwand meinem Gesichtsfeld und ich wollte mich schon wieder entspannen, als ich den Schmerz am Knöchel spürte. Kein Bluff, fuhr es mir durch den Kopf, echt, und liess die Klatsche auf meinen Fuss hinuntersausen.
Nachher tat es mir leid, auch wenn mich der Schmerz des Stichs noch tagelang an die Begegnung mit der Wespe erinnerte. Sie tat, was sie tun musste. Sie wehrte einen Angriff ab. Damit tat sie auch richtig, denn sie ist trotz aller Vorurteile gegen ihre Art ein Nützling, denn sie füttert ihren Nachwuchs mit andern Insekten. Sie bekämpft Schädlinge. Auch den allerschlimmsten.
Nun hatte ich ein schlechtes Gewissen. Ich hätte die Wespe nie erschlagen dürfen. Dabei hatte ich noch Glück gehabt – anderen ergeht es schlimmer. Wie dem Löwen in einer Fabel von La Fontaine (mit leicht modifizierter Rolle: Wespe statt Mücke).
Der Löwe und die Wespe
«Geh weg, armseliges Tier, du Auswurf dieser Erde!» Mit diesen Worten sprach der Leu zur Wespe ohne Scheu, worauf sie ihm den Krieg erklärte.
«Denkst du», sprach sie, «dein Königstitel mach im Nu mir Angst und kümmere mich viel? Ein Stier ist mächtiger als du. Ich aber lenk? ihn, wie ich will.»
Kaum wurden diese Worte laut, als sie auch schon sie ihm bewies, als Held in die Trompete blies, den Leu von oben her beschaut, dann auf den Hals herab ihm sirrt und macht, dass er fast närrisch wird.
Der Löwe schäumt. Sein Auge glüht. Er brüllt gar sehr. Im Umkreis zittert alles, birgt sich hinter Schranken, und dieser Aufruhr ringsumher ist einer Wespe zu verdanken.
Die Missgeburt von Wespe reizt ihn immer mehr. Bald sticht sie in den Rücken, bald ihn auf das Maul, dringt in die Nase ihm nicht faul.
Da steigt die Wut zu ihrem höchsten Gipfel schier. Doch triumphiert der unsichtbare Feind und lacht, weil weder Zahn noch Klaue das gereizte Tier zur Abwehr und zu der Ermordung tüchtig macht.
Der unglückselige Leu beisst hinter sich und vorn und peitscht die Flanke mit dem Schweif sich, den er schwingt, und schlägt die Luft, die nichts dafür kann, und sein Zorn ermüdet schliesslich so ihn, dass ins Gras er sinkt.
Die Wespe scheidet aus dem Kampf, mit Ruhm umkränzt. Wie sie zum Angriff blies, bläst sie zum Sieg beglänzt, verkündet ihn ringsum und fliegt, vom Ruhm verblendet, in einer Spinne Netz hinein, wo nun auch sie ihr Leben endet.