Die Lerche und der Wolf

Eines Tages begegneten sich auf einem Äckerlein im Oberwallis ein Wolf und eine Lerche. Der Wolf hatte die Lerche gar nicht richtig bemerkt, denn seine ganze Aufmerksamkeit war auf eine Fährte gerichtet, die nach dem Weibchen roch, dem er seit Tagen hinterherhechelte. Er stiess auf diese Spur, kurz nachdem er die Landesgrenze zwischen der Schweiz und Italien überquert hatte, wo der junge Rüde zu neuen Ufern und zur Bildung eines Rudels aufgebrochen war.

Die Lerche erschrak gehörig, als sie die feuchte Schnauze vor ihrem Schnabel auftauchen sah. Sie schwang sich aus ihrem Nest, das sie in eine Kuhle inmitten alter Roggenstoppeln gebaut hatte, hoch in die Luft. Dort blieb sie flatternd stehen. Nun konnte sie auf dieses mächtige Tier hinunterschauen, und siehe, von da oben sah es nicht mehr so bedrohlich aus wie aus der Froschperspektive. Wie einer von diesen Hunden, die sie von zu Hause kannte.

«Bist du mir gefolgt?», fragte sie den Wolf.

«Dir gefolgt?» Der Wolf lachte. «Dich habe ich noch nie gesehen.»

«Kein Wunder», sagte die Lerche. «Ich bin auf dem Rückzug.»

«Ich auf dem Vormarsch», so der Wolf. «Woher kommst du?»

«Aus dem Mittelland.»

«Und warum bist du auf dem Rückzug? Du brauchst doch kaum Platz. Klein wie du bist.»

«Das denkst du. Früher hing der Himmel voller Lerchen. Wir waren fast überall in Europa vertreten, wir waren Millionen. Aber dann breiteten sich die Menschen aus, bauten überall und bewirtschaften heute ihre Felder nur noch mit Maschinen. Ihr Getreide steht so eng, dass wir zwischen den Halmen keine Nester mehr bauen können. Und du? Fehlt dir auch der Platz zu Hause?»

«Ja. Aber wir gedeihen prächtig, wir müssen neue Reviere suchen.»

«Hier im Wallis? Weisst du nicht, wie gefährlich das ist?»

«Gefährlich? Da lachen ja die Hühner. Es geht uns doch wunderbar hier. Klar, mit Verlusten muss man rechnen. Aber ein paar Tatterschützen können uns keine Angst einjagen. Wer in Italien besteht, überlebt überall.»

«Seh ich auch so», sagte die Lerche, nachdem sie sich couragiert neben den Wolf gesetzt hatte. «Die Zukunft spricht für euch».

«Wie meinst du das?»

«Ihr habt eine Lobby.»

«Woher willst du das wissen?»

«Ich habe Augen im Kopf, kein Spatzenhirn! Dich lieben sie. Mich haben sie vergessen.»

«Wer?»

«Die Städter. Sie schützen grosse Tiere. Wolf. Luchs. Biber.»

«Kleine wie dich etwa nicht?»

«Gewiss. Rhetorisch bin ich inbegriffen, auch wenn ich klein bin. Aber all die Häuschenbauer, Spaziergänger, Hundehalter und andern Naturfreunde breiten sich so rasch und gründlich aus, da kann ich nur untergehen. Und sie merken es gar nicht.»

«Bist wohl neidisch, was?»

«Sicher! Sie meinen es eigentlich gut mit uns, sind aber inkonsequente Trampel.»

«Die Städter? Die kenn ich kaum. Sollen uns lieben, hört man so. Ich kenne nur Schafhalter und Jäger.»

«Die Städter sind die Leute, die das Geld verdienen und von der Wildnis träumen.»

«Und die Schafhalter, Jäger?»

«Die Leute, die das Geld erhalten und die Wildnis verfluchen. Aber das wird wohl bald aufhören.»

«Meinst du? Warum?»

«Weil die Städter einen neuen Eisenbahntunnel gebaut haben und bald in rauen Mengen ins Wallis einfahren, um euch zu sehen.»

«Uns? So weit kommts noch. Wir leben doch nicht im Zoo!»

«Du hast noch Illusionen. Das Futter zahlen sie euch ja schon, die Städter. Und das bloss zu ihrem Vergnügen. Oder glaubst du etwa, die 40 Millionen Subventionen für die Schafzucht dienten seriösen landwirtschaftlichen Interessen?»

«Wohl wahr. Wer will schon ständig Schaffleisch fressen!»

«Du – oder etwa nicht?»

«Im Notfall. Aber du hast auch etwas davon. Wenn es bald keine Stoppelfelder mehr gibt, dann immerhin abgegraste Weiden.» «Mag sein, aber es ist zu spät. Ich pfeife aus dem letzten Loch.»

«Hör auf zu jammern!»

«Ich klage gar nicht, ich bin wirklich eine der letzten meiner Art», sagte die Lerche. «Eine Rarität. Aber ohne Anerkennung.»

«Mondo cane», seufzte der Wolf und frass die Lerche.