Die Zähmung der Widerspenstigen

Gänse haben Dichter stärker inspiriert als jedes andere Geflügel, ein Geschenk der Natur, für das sich Wilhelm Busch mit einer Kurzlaudatio revanchierte: «Jeder, der Verstand hat, spricht: einen schöneren Vogel gibt es nicht.» Gänse waren es auch – und nicht hysterische Hühner –, die die Römer vor den Galliern gerettet hatten. Aber den Freizeitkoch vermögen sie, wer kanns ihnen verdenken, gnadenlos ins Elend zu stürzen.

Eines Tages schenkte mir ein Bekannter eine Gans. Er litt unter Schlaflosigkeit, die er mit ausgedehnten Spaziergängen durch den Ort zu bekämpfen versuchte. In einer Nacht, als er beim Güterumlad des Bahnhofs vorbei stromerte, schlossen sich ihm zwei Gänse an. Offenbar war ihnen die Flucht aus dem Korb gelungen, und in ihrer Freude an der wieder gewonnenen Freiheit verloren sie jeglichen Sinn für Risiken. Mein Bekannter hatte anfänglich nichts gegen die Gesellschaft einzuwenden, aber als die Gänse nicht mehr von ihm lassen wollten, ihn in ihrer Aufregung hellwach schnatterten, drehte er beiden den Hals um.

Ich hatte noch nie einen Vogel gerupft und ausgenommen. Den Geruch nach lauwarmen, nassen Federn und süsslichem, verwässertem Blut werde ich nie vergessen, und so kam ich auch nicht in den Genuss der herrlichen Oie à l’orange, die ich acht Gästen servierte. Ich hätte keinen Bissen schlucken können, ich roch nichts anderes mehr als diesen Gestank nach verblichenem Leben. Meine Gäste rechneten mir den Verzicht aufs Mahl hoch an, denn der Gänsebraten war eine Sensation, das Fleisch so zart, dass es von den Knochen rutschte.

Jahre später wollte ich den Erfolg, der mir entgangen war, wiederholen, und ich erstand eine frische, ausgenommene Gans. Es war keine junge Frühmastgans, keine Martinsgans und auch keine Weihnachtsgans. Es sollte eine Silvestergans werden. Nicht mehr à l’orange, sondern gefüllt. In der rustikalen Küche eines abgelegenen Ferienhauses vermischte ich eingeweichte Weggli, Apfelschnitze, Rotkraut, Brät und Kastanien zu einer Farce, würzte sie mit Schalotten, Peterli, Muskatnuss, Salz und Pfeffer und stopfte die Masse in den Gänsebauch. Dann schob ich das Tier in den Backofen – es fand knapp Platz – und liess es, fünfzehn Minuten pro halbes Kilo, auf den Garpunkt schmoren.

In der guten Stuben herrschte eine erwartungsfrohe Atmosphäre. Gänsebraten! Ein klassisches Gericht, das etwas in Vergessenheit geraten ist, weil das Fleisch schwer verdaulich und die Zubereitung recht aufwändig ist. Aber wir alle waren zur Entspannung hier und freuten uns, die Gans im Bauch und das edle Haupt auf Gänseflaum gebettet, auf eine Nachtruhe ohne Zwang zum Aufstehen.

Nach eineinhalb Stunden zog ich die Gans aus dem Ofen und trug den duftenden, goldbraunen, knusprigen Braten unter Szenenapplaus vor ein festlich gestimmtes und hungriges Publikum. Ich hatte mein bestes Messer, edelster Stahl deutscher Handwerkerskunst, extra zum Tranchieren mitgenommen, denn der letzte Akt der Küchenoper, das Zerlegen mit geübter Hand, sollte die Sinne auf den Kulminationspunkt des Genusses noch feiner schärfen.

Ich setzte bei der Brust an. Das Messer bewegte sich keinen Millimeter. Ich stiess heftiger zu. Ein Zittern fuhr durch den Gänseleib. Die Runde verstummte, alle starrten auf mich und meine Gans. Schweisstropfen rannen mir aus den Schläfen. Verfluchtes Vieh! Mit aller Kraft und dem ganzen Gewicht meiner Wut jagte ich das Messer in den störrischen Klotz, und ächzend löste sich ein Stückchen Brust von den Knochen. Das Fleisch war beinhart. Ein kontrahierter Muskel. Die Füllung nur ein bisschen weicher. Ein Waterloo in der Nacht der Vorsätze und der Abrechnungen.

Stille am Tisch, unterbrochen bloss vom Knurren vereinzelter Kaldaunen, die angefeuert wurden, nun aber nichts zum Verbrennen erhielten. Die Vorräte bemessen, die Läden geschlossen. Der Hunger wuchs mit jedem weiteren Blick auf den fossilierten Braten. Unser Glück und meine Rettung war die Weitsicht einer Freundin. Sie hatte einen halben Laib Tilsiter mitgeschleppt.


TA | 9. Dezember 2000