Eine kleine Insel in Schräglage

An einem milden Spätnachmittag Ende Oktober begleitet mich ein Mitglied der Ornithologischen Gesellschaft Basel durch das älteste Naturschutzgebiet der Schweiz, die Rheinhalde am östlichen Nordufer des Basler Rheins. Der schmale, zumeist mit herbstlich gefärbten Bäumen und Sträuchern bestückte Streifen erstreckt sich zwischen Land- und Wasserstrasse. Auf einer Tafel lesen wir, dass hier, am Rande des Staubereichs des Kraftwerks Birsfelden, 180 Pflanzenarten gezählt worden sind und dass es sich bei der Rheinhalde um ein sogenanntes Trittsteinbiotop handle, um eine Art Passage, die der Durchreise von Biber, Lachs (dessen Rückkehr man immer noch voller Hoffnung erwartet) und andern Wassertieren diene.

Von der Strasse her rauscht der Feierabendverkehr mit den Grenzgängern, die in ihre Wohnorte in Deutschland fahren; über den Uferweg traben ein paar Jogger. Auf dem Rhein geschieht wenig. Der Wasserspiegel erzittert ab und an, wenn Wind darüber streicht. Auch auf der andern Seite herrscht Ruhe, in der Schleuse lässt sich kein Schiff blicken.

Durchs Geäst schauen wir auf eine kleine Insel, ein Floss vielmehr, etwa 20 Quadratmeter gross, das mit Schlagseite im Fluss dümpelt. Die Ornithologische Gesellschaft Basel installierte es 1970 anlässlich ihres hundertsten Geburtstags. Sie wurde am 15. November 1870 gegründet, und seither bezweckt sie, «das Interesse an der Vogelwelt zu wecken und setzt sich für die Förderung der Vogelkunde (Ornithologie) und des Vogelschutzes ein». So steht es geschrieben auf der Website des Vereins.

Die Ornithologische Gesellschaft bemühte sich schon früh, der Natur Beachtung und Respekt zu verschaffen – bereits drei Jahre nach ihrer eigenen Gründung half sie tatkräftig mit, den Basler Zoo zu gründen, und auch 1970 bewiesen die Vogelfreunde Weitsicht, als sie das Floss bauen und im Flussbett verankern liessen. Oder steckte mehr als Weitsicht dahinter? Strategisches Denken vielleicht?

Damals jedenfalls habe man gesagt, erzählt mein Begleiter, das Floss sei als Brutplatz für Flussseeschwalben gedacht, Sterna hirundo. Ein hübscher, eleganter, fast schneeweisser Vogel, der im 19. Jahrhundert in der Schweiz häufiger zu beobachten war als die Lachmöwe, bis Mitte 20. Jahrhundert aber immer seltener. «Gewässerkorrektionen und Kiesgewinnung haben zum Verschwinden der Kolonien an natürlichen Brutplätzen geführt», heisst es im monumentalen Buch «Die Vögel der Schweiz». Der Bestand hat sich inzwischen dank künstlich angelegter Nisthilfen wieder erholt.

Nisthilfen wie dieses kleine Floss im Rhein. Es sieht derangiert aus. Eine Ecke ist abgetaucht. Der Holzboden der fast quadratischen Insel, von Wind und Wetter gebleicht, schimmert in der Abendsonne. Fast die ganze Decke aus Kieselsteinen, der Brutplatz der Seeschwalben, ist in die tiefe Ecke des Flosses und weiter ins Wasser gekollert. Von Seeschwalben keine Spur.

Zwanzig Kormorane sitzen auf den schiefen Kanten des Flosses. Schauen keck in die Runde, die Flügel zum Trocknen ausgebreitet. Ruhen sich aus, putzen mit dem Schnabel das Gefieder, beobachten den Rhein aufmerksam und halten sich startklar, sollte sich ein Fisch bemerkbar machen.

Haben die Komorane die Seeschwalben vertrieben? Das könne man nicht sagen, erwidert mein Begleiter, im Jahr eins nach der Installierung habe die Insel ihren Zweck erfüllt. Die Seeschwalben hätten wie gewünscht zum Brüten angedockt. Einmal. Und nie wieder.

Ein Misserfolg für die Ornithologische Gesellschaft? Der Begleiter lächelt. War das etwa weitsichtig? Nicht auf den ersten Blick, aber auf den zweiten: Auch Kormorane brauchen geschützte Ruheplätze, erst recht, seit sie von den Fischern so heftig attackiert werden.