Es singt die Amsel, es erklingt Amadeus

An den Anblick von schwächelnden Frühfliegen, die von einer Turbulenz in die nächste torkeln und am Ende ins Fenster prallen, habe ich mich mittlerweile gewöhnt und den Beginn des Winters für die laufende Saison in den kalten Ofen geschoben.

Jeden Morgen reisse ich aus einem Kalender das fällige Blatt heraus und lese die Sprüche. Von Kälte ist die Rede, von Frostgefahr in Strauchrabatten und bei verfrühtem gärtnerischem Überschwang. Gerne wird auch öfter aus dem Hundertjährigen Kalender zitiert, aber dessen Zuverlässigkeit ist, bei einem Alter von über 200 Jahren, längst unter der Glocke des Treibhauseffekts verdampft. Fast rührend wirken das Hoffen, dass der Winter doch noch komme, und die Suche nach Regeln, die Erlösung verheissen. Wie «Lichtmess im Klee, Ostern im Schnee». Lichtmess war am 2. Februar, einem warmen Tag – wir werden sehen, ob man am 8. April die bunten Eier aus Schneehaufen klauben muss. Ein später Wintereinbruch könnte all den Insekten, die schon durch die Tage schwirren, ein kühles Ende bescheren und uns den Ekel vor angekündigten Fliegenhorden und Mückenschwärmen im Sommer nehmen.

Auch viele Vögel haben ihren Zyklus etwas vor der Zeit wieder aufgenommen. Vor den Fenstern zwitschert es wieder variantenreich, und die Katze hat auch schon die ersten Federn aus dem Pelz geputzt.

Das Opfer war eine Amsel. Das ist bedauerlich. Offenbar hat sie sich vom Frühlingswetter hinreissen lassen und, himmelhoch jauchzend, unbedarft lauernde Gefahren vergessen, gar den familieneigenen Warncode bei Katzensichtung überhört, ein zum Crescendo anschwellendes, gellendes, metallisch gehämmertes «pli-pli-pli-pli-pli».

Aber die gefressene Amsel war ja nicht die Einzige, die sich in Jubeltönen ergehen wollte, deren Gesang im Nachschlagwerk «Vögel Europas» (Svensson, Grant, Mullarnay, Zetterström) beschrieben wird als «schön, melodisch und weich, klare und laute Flötentöne (fast in Dur) in ruhigem Tempo und mit oft grossen Tonsprüngen sowie mit angehängtem, gepresstem Zwitschern.»

Sie hat nicht aufgepasst. Sie wird auch nicht das letzte Opfer sein, das in den Krallen einer Mieze endet, im Schlund eines Wesens verschwindet, dessen schrille musikalische Irritationen zum Inbegriff falscher Töne geworden sind – kein Wunder, klingt der Amselgesang oft melancholisch.

Der Katze kann man keinen Vorwurf machen, woher sollte sie – gesegnet mit einer Unmusikalität, die Fensterkitt zum Bröckeln bringt – die Fähigkeit nehmen, dem kompositorischen Schaffen der Amsel die Wertschätzung entgegenzubringen, wie es Olivier Messiaen in der Lage war? Selber Komponist, konnte der Franzose die Amsel mit dem Urteil des Kenners würdigen und werten: «Landamseln sind meisterlicher als Stadtamseln», schrieb Messiaen («Traité de rythme, de couleur et d?ornithologie»). «In ihrer Fröhlichkeit, in ihrer Sorglosigkeit, und sogar in ihrer Nonchalance zeigen sie Grösse und Noblesse.»

Messiaen ergeht sich nicht als gar Einziger in Schwärmereien, wenn er an die Amsel und ihre schöpferischen Schlenker denkt. Der braune (weiblich) oder schwarz (männlich) gefiederte Vogel mit goldgelben Augenringen und Schnabel, der aus seinem ursprünglichen Lebensraum Wald als Kulturfolger in die Gärten der Siedlungen dislozierte, ist der MusicStar in der Vogelwelt. Heinz Thiessen, der ein paar Hundert «erlauschte Amselkompositionen» notiert oder auf dem Klavier nachgespielt hatte, bezeichnete in seinem Büchlein «Musik der Natur» (Atlantis-Verlag 1953) «den Amselgesang als musikalische Höchstleistung der Natur ausserhalb des Menschenwerks».

Voilà.

Vermutlich kann im 4. Jahrtausend nach der Errettung der Amsel aus den Wogen der Sintflut ein Kopf, dessen Ohrenpaar stundenlang aus glühenden iPod-Kabeln mit Bumbum-Akkorden traktiert wird, kaum nachfühlen, dass sich Ornitho-Musiker in Fragen der Zuordnung der kompositorischen Fähigkeiten verschiedener Amselindividuen intellektuell in die Noten geraten können. Der Verschiedenheit herrscht allerlei. Ein Autor, so Thiessen, habe darauf hingewiesen, «dass die Amsel – im Gegensatz zu der ?klassischen Einfachheit? der Singdrossel – den Modernen an die Seite zu stellen ist, und vergleicht sie speziell mit der ?Salome? von Richard Strauss, dem zu jener Zeit neuesten musikalischen Ereignis».

Eine Autorin dagegen wird belächelt, «weiss sie doch vorwiegend Imitationen von Geräuschen sowie Nachsingen von Opernfragmenten und Schlagermelodien anzuführen».

Die Amsel, ein Papagei?

Oder eher eine Nachtigall? Die gehöre auch zur Spitze, aber ein Vergleich zwischen Nachtigall und Amsel sei unmöglich, steht in «Musik der Natur». So unmöglich wie ein Vergleich zwischen Caruso und Strauss. «In der Musikkammer der Vögel», schreibt Thiessen, «gehört die Nachtigall zur Fachgruppe der Gesangssolisten, die Amsel vor allem auch zu den Komponisten.»

Eine Amsel singt nie dasselbe. Allein schon deshalb geniesst die folgende Melodie, Beispiel 121 in Thiessens Buch, höchsten Seltenheitswert. Das Stückchen, gehört und notiert auf dem Zürichberg am 12. Mai 1917, «ist von grosser Brillanz des Einfalls; es besitzt in seinem ersten Takt eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit einem Thema Mozarts (aus dem Finale des Klavierkonzertes d-Moll) und bleibt auch in dem abweichenden chromatischen Schritt durchaus im Stile Mozarts». Wers prüfen will: (Bild-Faksimile der Noten)