Fressen und Gefressenwerden

Ein Freund erzählte mir, dass ihm in der Nacht vor langen Autofahrten Richtung Süden Alpträume heimsuchten, dass er in aufgewühltem Schlaf mit Entsetzen zuschaue, wie sich ihm ein Fiat in rasender Geschwindigkeit nähere, immer näher komme und wie er im letzten Augenblick vor dem Undenkbaren erwache und an sich ausser Schweisstropfen keine weiteren Folgen diagnostizieren könne.

Darauf versuchte ich mir auszumalen, wie der Alptraum eines Feinschmeckers in der Nacht vor einem Diner exceptionnel verliefe. Was träumt ein Mensch, der gerne isst? Er träumt, dass er bei lebendigem Leib verschluckt wird. Natürlich sind in der Natur physische Grenzen gesetzt, nicht jedes Tier ist fähig, einen ausgewachsenen Menschen als Grosse pièce unzerteilt die Speiseröhre hinunterzuwürgen. Und nicht jeder Mensch ist in der Lage, wie Jonas im Wal die Nerven zu bewahren und einen Weg zurück an die frische Luft zu finden. Man stelle sich nur vor, von einer Schlange verschlungen zu werden.

Bloss nicht. Ich erinnere mich lieber an den umgekehrten Fall. Da spazierte ich in der Camargue einer Weide entlang, die mit zahlreichen Vegetationsbüscheln und Wasserflecken durchsetzt war. Ein Purpurreiher präsentierte sich in seiner ganzen Herrschaftlichkeit, und meinem Begleiter, einem passionierten  Ornithologen, stellte sich sofort das Nackengefieder. Sensationell, sagte er, der Anblick eines Purpurreihers bedeute im Leben eines Vogelbeobachters stets ein Höhepunkt.

Nun, der Höhepunkt wurde noch übertroffen. Der Purpurreiher hielt einen länglichen Gegenstand in seinem langen Schnabel. Der Blick durch den Feldstecher enthüllte mir dann ein Drama biblischer Unabänderlichkeit: Der Gegenstand war eine Treppennatter. Der Reiher hielt die Schlange am Schwanz. Die Schlange wand sich, sie mäandrierte in der Luft, und der Vogel gab sich alle Mühe, seine Beute in seinem Schnabel so zu arrangieren, dass er sie Kopf voran schlucken konnte. Er legte die Natter auf den Boden, packte sie näher beim Kopf, hob sie hoch, schüttelte sie kräftig durch, sperrte den Schnabel auf, schnappte, bevor die Schlange im freien Fall der Freiheit entgegen fliehen konnte, wieder zu und hielt sie nach etwa fünf Minuten genau richtig: Auf der einen Seite des Schnabels lugte der Schlangenkopf mit hängender Zunge hervor, auf der andern zappelte der Körper, der ziemlich schnell ermattete.

Mit einem Ruck seines Kopfs nach hinten beförderte der Reiher die Natter in den Rachen und verschluckte sie. Dann streckte er sich aus wie beim Morgenturnen, er reckte den Schnabel wie eine Fahnenstange, damit sein Körper eine gerade Linie bildete, und wartete so lange, bis die Schlange im Magen angekommen war. Die Schlange hatte keine Chance. Sie rutschte Kopf voran die Speiseröhre hinunter. An ein Wendemanöver war nicht zu denken, sie konnte nur hoffen, unverzüglich den Hinterausgang zu finden.

Die Moral? Keine. Nur ein Nachtrag zum Löwenzahn: Waadtländer Saucisson gar ziehen und erkalten lassen. Grünen Löwenzahn sehr fein schneiden (man kann Brunnenkresse, Rucola oder andere Wildsalate dazu geben) und in einer grosszügig bemessenen Vinaigrette richtig gut verrühren. Zusammen mit Saucissonrädchen anrichten.


TA | 7. Mai 2005