Von der Artigkeit des Guttiers
Vor einigen Jahren sass ich in einer Arena in Thailand und schaute zu, wie ein flinker Tierbändiger einem Krokodil das Maul aufriss. Der Mann presste die Kiefer des Reptils mit aller Kraft auseinander, es sah jedenfalls so aus, und das Krokodil machte keinen Wank. Ich hatte den Eindruck, dass es womöglich schielte, jedenfalls guckten die Augen starr ins Irgendwo. Dann steckte der Mann seinen Kopf zwischen die beiden zahnstrotzenden Kieferplatten.
Offensichtlich hatte das Krokodil nichts dagegen, dass eine fremde Art an seinem Maul hantierte. Vielleicht realisierte es nicht einmal, dass ihm dieser Vertreter der bedrohlichsten Art sein Wesenszentrum zur Vernichtung bot – eine Gelegenheit, sich für Jahrtausende Ungemach, Verfolgung und Ausbeutung zu rächen.
Aber das Krokodil verzichtete darauf, sein Maul zu schliessen und dem Bändiger den Kopf abzureissen. Dieses Verhalten ist nicht selbstverständlich, ja eigentlich unnatürlich, sozusagen atypisch. Ein Krokodil, das nicht frisst, was ihm zwischen die Kiefer gerät, ist kein richtiges Krokodil. Sweetheart, das berühmteste Riesenkrokodil Australiens, frass sogar metallene Putzkessel. Keine Frage, das thailändische Krokodil hätte den Bändiger zerfetzen müssen.
Doch es tat nichts dergleichen. Hatte es Angst? Dann war es eine Schande seiner Art. War es krank? Altersschwach? Mit Drogen voll gepumpt? Der Bändiger hätte es natürlich vor dem Auftritt im Kühlschrank deponieren können. Das ist ein alter Trick, um wechselblütige Reptilien ruhig zu stellen. Deshalb zucken die orientalischen Tänzerinnen immer kurz zusammen, wenn sie eine angefrorene Boa auf dem Busen drapieren. Vielleicht hatte das Krokodil vor der Show bereits ausreichend gefressen, vielleicht war es einfach eine friedliche Natur. Ein Guttier gar, das sich alle Mühe gab, in komplexer multikultureller Umgebung keinen Fehltritt zu begehen.
Artübergreifende Gutartigkeit zeichnete auch das Nilpferd und das Zebra aus, die letzte Woche im Basler Zoo für Furore sorgten.
In einem Tierpark herrschen enge Verhältnisse. Die Arten müssen sich arrangieren, um sich nicht ins Gehege zu kommen, vor allem in Gemeinschaftsanlagen. Konsens ist vonnöten, nicht Konfrontation – aber mit klaren Konturen. Sonst gibts ein Blutbad.
Deshalb riss Nilpferdmann Wilhelm als Imponiergehabe sein Maul auf, wenn Zebrahengst Kalungu dem Teich zu nahe kam; liess Wilhelm dagegen erkennen, dass er das Wasser verlassen wollte, eilte Kalungu herbei und gab Wilhelm zu verstehen, seine Reviergrenze tunlichst nicht zu überschreiten. Dies begann vor zwölf Jahren. Mit der Zeit arrangierten sich die beiden und spielten mit der Grenze. Wilhelm stand im Wasser und hielt seinen weit aufgesperrten Schlund knapp über dem Ufer, Kalungu knabberte darin und probierte fremde Kost, ohne sich die Hufe zu benetzen. Bis er Wilhelm in die Lippen biss. Das Nilpferd erschrak, dann erschreckte sich das Zebra, rutschte ins Wasser. Sofort stürzten sich Wilhelms Gattin, die wehrhafte Helvetia, und ihre gemeinsame Tochter Asita auf den Eindringling und schlugen ihm die Hauer ins Fleisch. Das Zebra schleppte sich an Land, lebte aber nicht mehr lange. Das positive bilaterale Verhältnis zwischen Nilpferd und Zebra dauerte zehn Jahre, das Ende dagegen war eine Sache von Sekunden.
Man soll Tiere nicht vermenschlichen, sagen Fachleute. Das ist gar nicht nötig. Die Tiere passen sich schon lange an.