Eine Frage der Identität

Wer war zuerst da? Wer ist berühmter, älter, besser? Bemerkungen zu David und Goliath auf dem Käsebuffet – Sbrinz und Parmigiano.

Der Besuch bei Peck in Milano liegt lange zurück. Das Ess- und Trinkparadies in der lombardischen Metropole hat sich seither vor allem digital ausgebreitet. Trotz all der schönen Bilder und fein formulierten Verlockungen auf Internet hält sich in meiner Erinnerung immer nur das eine Bild: der Blick in die Käsetheke, wo sbrinzo angeboten wurde. Nicht einfach so – sondern sauber nach Alter wie Wein nach Jahrgang. Sbrinzo due anni, tre anni, cinque anni.

An eine vergleichbar edel assortierte Auslage in der Schweiz kann ich mich nicht erinnern. Umso gepflegter wird hierzulande Parmesan angeboten.

Etwa zur gleichen Zeit, Ende 90er-Jahre, degustierten wir für die SonntagsZeitung bei Beat Caduff im Hotel Anita in Arosa eine Selektion prämierter Käse. Als Juror dabei war Affineur Rolf Beeler. Der Maître Fromager erzählte, wie beliebt Sbrinz in Italien sei. Man habe ihm oft gesagt, der Schweizer Extrahartkäse schmecke besser als der heimische Parmesan – Reggiano DOP oder nicht. Das Lob mag Freundlichkeit mit Euphorie zu kleiden versuchen. Die Produzenten diesseits der Alpen freut’s natürlich. Was Schweizer Konsumenten nicht wahrhaben wollen, wissen Italiener schon lange.

Doch lassen sich die beiden Monumente regionaler Käsekultur überhaupt vergleichen? Mengenmässig verhält es sich wie Goliath zu David, da sticht der Klotz aus der Emilia Romagna den Innerschweizer Bruder 80:1 aus, knapp 130000 Tonnen gegen 1600 Tonnen im Jahr.

Und nach sensorischen Kriterien? Da steht’s Remis – denn schliesslich stehen sich zwei Manifeste gegenüber. Die kann man nicht messen, da geht’s um Identität. Sie beginnt bei den Ursprüngen des Käsens und gewinnt Bedeutung als kulinarisches Erbgut durch die Verbreitung, durch den Handel. Erst wenn das Produkt auch anderswo geschätzt ist, lässt sich sein Wert steigern. In digitalen Zeiten sieht das so aus: Auf der Seite parmigianoreggiano.com wird der Inhalt in 20 Sprachen angeboten, auf der Seite sbrinz.ch in vier.

Wer das Käsen erfunden hat, weiss man nicht. Es ist nicht einmal klar, ob der Vorgang, wie Milch (von welchem Säuger auch immer) in Feststoffe und Wasser getrennt wird, sich geografisch verorten lässt oder ob er in verschiedenen Regionen der Welt stets von neuem beobachtet und nachgeahmt wurde. Das britische Lexikon The Oxford Companion to Cheese vermutet den Ursprung des Käsens im 7. Jahrtausend vor Christus in Anatolien. In der gleichen Region sollen im 2. Jahrtausend vor Christus die Hethiter die Lab-Methode herausgefunden haben. Ob mit pflanzlichem oder tierischem Lab, bleibt ein Mysterium.

Das Käsen hat sich also vom «Fruchtbaren Halbmond» am östlichen Mittelmeer westwärts verbreitet und die antiken Bauern Ägyptens, Griechenlands und Roms befeuert. Der Schriftsteller Columella, aus dem heutigen Spanien stammend, hat in seinem Werk Res Rustica eine präzise Beschreibung der Methode verfasst und mit einigen Food Pairings garniert. Weitere römische Autoren nannten von diversen Landwirtschaftsprodukten die Regionen, wo die besten gedeihen. Zum Beispiel Feigen, Oliven, Weintrauben, Birnen. Zu dieser Geburtsstunde detaillierter AOP-IGP-Bezeichnungen gehört auch der Käse. Die Reputation war von der Herkunft abhängig. Man schätzte Käse aus Umbrien, Ligurien und riesige Laibe aus Etrurien, dem Kerngebiet der Etrusker.

Auch von Caseus gallicus war die Rede. Und Kaiser Antonius Pius soll sich im Jahr 161 mit Unmengen von caseum Alpinum den Magen verdorben und kurz darauf das Zeitliche gesegnet haben. War dieser Alpenkäse ein Vorläufer des Sbrinz? Oder des Parmigiano? Ziemlich sicher weder-noch. Degustationsmuster oder –notizen sind nie gefunden worden. Logischer scheint, dass der Parmigiano der ältere der beiden Extraharten ist – die Menschen haben die Berge von der Ebene her besiedelt und nicht vom Himmel her.

Die Ursprünge des Parmigiano werden im 13. Jahrhundert in Benediktiner- und Zisterzienserklöstern in der Region um Parma vermutet. Im 14. Jahrhundert hat der Dichter Boccaccio in seinem Werk Decamerone einen Berg aus geriebenem Parmesan beschrieben, auf dem Leute standen und Pasta machten. Laut Quellen wird Parmesan seit 800 Jahren fast unverändert erzeugt.

Der Ursprung des Sbrinz ist nicht genau bekannt. Die erste Erwähnung von Brientzer käss und Unterwaldner käss stammt von 1530 und liegt im Berner Staatsarchiv. In dieser Urkunde geht es nicht um Ursprung, sondern um Handel. Brientzer und Unterwaldner käss wurden von Brienz aus via Grimsel- und Griespass nach Oberitalien transportiert. Sbrinz kann durchaus älter sein. Vielleicht doch ein Nachfahre des caseus Alpinus? Oder gar eine Variante des caseus gallicus? Schön wärs. Aber nicht zwingend.

Niemand weiss, wie die Käse einst geschmeckt haben. Sie haben sich gewiss vielfältiger unterschieden als heute. Die Nachfrage bestimmte mit der Zeit den Geschmack. Die Händler rapportierten den Käsern, welche Laibe den Kunden am besten gefallen hatten. Und so lassen sich Sbrinz und Parmigiano, die beiden Brüder diesseits und jenseits der Alpen, heute gut unterscheiden.

Der Parmesan enthält weniger Fett und mehr Salz als der Sbrinz, auffallend ist eine leichte Säure im Geschmack. Das Aroma des Sbrinz ist vollmundiger, die Struktur trotz zunehmender Brüchigkeit mit den Jahren kompakt. Parmesan zerbröselt früher und schneller als Sbrinz.

Welcher ist besser? Über Vorlieben und Abneigungen lässt sich gut streiten. Das einzige Kriterium, das sich exklusiv zugunsten des Parmigiano ins Feld führen lässt, sind unstatthafte Begehrlichkeiten: «Parmesan ist ein lukratives Diebesgut», schrieb die NZZ. 2014 und 2015 wurden über 15’000 Stück von professionellen Banden aus den Kellern gestohlen. Da kommt etwas zusammen. Ein Laib Parmigiano Reggiano kostet je nach Qualität und Reifegrad 300 bis 450 Euro.