Wie das Kalb zum Fisch wurde
Im Ancien Régime war Thon teuer und Kalb billig. Wer nicht ganz reich, aber auch nicht arm war, wusste sich zu helfen.
Der Hof von Versailles und vor allem Louis XIV demonstrierten dem langsam aufsteigenden Bürgertum, wie sich Herrschaften zu benehmen haben, wenn sie ihren Status durch Symbolik und Gehabe zu unterstreichen geruhen. Im absolutistischen Frankreich waren die Fronten unmissverständlich abgesteckt, in der republikanischen Schweiz weniger – schon damals musste man sich mit Cervelatprominenz zufrieden geben.
Bern war der mächtigste Stand, die Ausdehnung reichte dank Untertanengebieten von Brugg bis Nyon. Drei Viertel der Bevölkerung lebten von der Landwirtschaft. Ihr Essen bestand aus Brei und Brot und Brot und Brei. Zu den restlichen 25 Prozent zählten die Armen und die Oberschicht, darunter Leute wie Pfarrer und Lehrer, die zwar kaum Geld, dafür Stellung besassen, sowie besser gestopfte wie Landherren und Geschäftsleute. Und dann die dünne Schicht mit dickem Polster, die Gnädigen Herren. Sie liessen es sich gut gehen. Wie gut, notierte der deutsche Gartenbauer Christian Gajus Laurenz Hirschfeld 1776 in einem seiner Briefe über die Schweiz. Er war ein Bewunderer der Schweiz, doch der gewaltige Appetit der Einheimischen, insbesondere der Berner Bourgeoisie, hat ihn verblüfft:
»Ausser den gewöhnlichen Mahlzeiten zu Mittag und zu Abend wird in allen Häusern des Nachmittags, oft eine Stunde nach dem Mittagessen, bei dem Koffee wieder eine Menge Speisen, Käse und Brod, Fische, Braten, Schinken, Gebackenes, auch Wein aufgetragen; und man muss sich wundern, mit welchem Appetit man wieder speiset und wie selbst die Damen sich nicht davon ausschliessen. Diese Gewohnheit wird sehr sorgfältig beachtet, und ohne dieselbe würde der Schweizer gewiss befürchten, in eine Krankheit zu fallen. Man nennt dieses goutiren.«
Die bekannten exotischen Gewürze wurden hoch geschätzt und überhaupt nicht sparsam verwendet. Ein »Pasteten- und Koch-Pulver«, wie es im Bernerischen Kochbüchlein von 1749 rezeptiert ist, wurde fast zu jedem Gericht gegeben:
»Imber vier Loth, Pfeffer vier Loth, Zimmet, Macis, Nägeli und Muscatnus anderthalb Loth jeder Gattung, alles rein zu Pulver gestossen, noch einmal so viel Salz darunter gethan; davon kann man nach Belieben brauchen zum Kochen oder zu Pasteten.«
Lässt man Salz und Pfeffer weg, bleibt das übrig, was heute als Lebkuchen- oder Weihnachtsgewürz verbreitet ist. Je nach Häufigkeit des Griffs in die Pulverdose kannte man schon im Ancien Régime eine Form von Einheitsgeschmack, den wir heute dem Industriefood ankreiden.
Armut war im reichen Bern ein ständiges Problem – auch wenn die sozialen Unterschiede in der Eidgenossenschaft nicht so weit auseinander lagen wie in Frankreich. Der Staat Bern, schrieb der Historiker François de Capitani in seinem Buch Festliches Essen und Trinken im alten Bern, »versuchte schon im 18. Jahrhundert, Hungerkrisen in grossem Stil vorzubeugen. Vorratshäuser wurden angelegt, im Ausland wurde Getreide gekauft und der Anbau von neuen Nahrungsmitteln propagiert […]. Das Kornhaus in Bern galt als Muster einer modernen Vorratshaltung. Die Landesversorgung mit den Grundnahrungsmitteln war eine Voraussetzung für das Bestehen des Staates. Auf dem Hintergrund der regelmässigen Krisen bekommt das Kornhaus eine eminente Bedeutung für das Staatsverständnis des Ancien Régime. Es war ein Symbol der politischen Macht und des Verantwortungsbewusstseins der Regierung.«
Man ist sich heute gar nicht mehr bewusst, dass in der gleichen Zeit der Kartoffelanbau Fuss fasste. Sehr langsam, vor allem bei den Bauern und der einfachen Bevölkerung, die der Knolle nicht trauen mochten und erst nach langem Zögern stärker in den Kartoffelanbau investierten. Vor allem nach der Hungersnot von 1770-71. Andere Produkte waren schneller akzeptiert. Vor allem Mediterranes wie Zitrone und Exotisches aus der Neuen Welt wie Cacao.
Eine Zitrone kostete gut fünf Franken, das konnte sich auch eine nicht allzu reiche Bürgerfamilie leisten. Man schälte die Zitronen und schnitt sie in Scheiben, legte sie auf einer Platte aus, bestreute sie mit Zucker und goss sauberes Wasser darüber. Dann stellte man die Salade de citrons über Nacht kühl und servierte die süss-saure Delikatesse am nächsten Tag zu Rôti, Braten.
Thunfisch wurde nach dem Fang in Öl konserviert und über die Handelsrouten vertrieben. Wer sich den teuren Fisch vom Mittelmeer nicht leisten konnte, imitierte ihn: Man garte in Bouillon Kalbfleisch, bestrich es noch heiss mit Sardellenpaste und liess es über Nacht in Olivenöl ziehen. Anders als heute war im Ancien Régime Kalbfleisch viel billiger als Schweinefleisch – die Schweinemast nahm erst mit dem Kartoffelanbau, der Verbreitung von Talkäsereien und der wachsenden Bevölkerung Fahrt auf.
»Veau déguisé en Thon«
»Kalb als Thon verkleidet«, für 8 Personen (Waadt, Ende 18. Jahrhundert)
1 kg Kalbshuft, 1 Dose Sardellenfilets, weisse Pfefferkörner, 3 Lorbeerblätter, Olivenöl, Salz, Bouillon
Die Huft in Schnitzel schneiden und zwischen Metzgerpapier dünn ausklopfen. Leicht salzen, dann jedes einzeln aufrollen. In eine feuerfeste Schale schichten und mit einer leichten Bouillon knapp bedecken. Pfefferkörner und Lorbeerblätter hineingeben. Das Ganze bei 180°C ca. 50 Minuten lang im Ofen garen.
In der Zwischenzeit Sardellen pürieren oder sehr fein hacken.
Röllchen aus dem Ofen nehmen und noch heiss einzeln mit Sardellenpaste einreiben. In eine Tupperware-Schale geben, mit Olivenöl bedecken, Deckel drauf und im Kühlschrank über Nacht ziehen lassen. – Dann die heisse Bouillon durchs Haarsieb giessen, einen satten Schuss Sherry oder Madeira hineingeben und gleich geniessen.
(Quelle: François de Capitani, Soupes et citrons – La cuisine vaudoise sous l’Ancien Régime, Editions d’en bas, Lausanne 2002)