Wie die Nonne ins Caquelon kam
Stets zur Fonduesaison beginnen aufmerksame Menschen zu rätseln, warum in gewissen Regionen, insbesondere in der Westschweiz und in Savoyen, die Bodenkruste im Caquelon la religieuse genannt wird. Tatsächlich eine Merkwürdigkeit, denn religieuse heisst Ordensschwester.
Die Frage, wie eine Nonne als Bodenkruste im Caquelon enden kann, weckt unsanfte Gedanken. Der Dictionnaire historique de la langue française schreibt, dass religieuse «en français de Suisse» eine Bezeichnung (1944) für Kruste an der Käserinde beim Raclette sowie auf dem Caquelonboden sei, der Ursprung dieser Verwendung von religieuse indessen «obscure» bleibe. Dunkel ist auch das Kleid der Nonnen, deswegen, so der Dictionnaire, Vögel mit schwarz-weisser Federkombination «religieuses» genannt würden. So heisst der Beo auf Französisch Mainate religieux und wissenschaftlich Gracula religiosa (ja, mit G). Umgekehrt tituliert man die Trägerinnen von schwarzen Gewändern und weissen Hauben etwas despektierlich «Pinguine».
In der Deutschschweiz geht man mit dem halb caramelisierten Käse nicht inspirierter um, da heisst die Kruste im Dialekt Grossmueter. Geruch und Konsistenz der angehockten Käsemasse führen zu unerfreulichen Assoziationen. Aber auch komischen. So steht im Idiotikon, dem Schweizerdeutschen Wörterbuch, dass Grossmueter unter anderem als Synonym für «alte Frau» verwendet werde oder man eine «Falte, die beim Plätten der Wäsche aus Mangel an Sorgfalt entsteht», als Grossmüeterli bezeichnet (habe). Aber im Caquelon gibts kein Falten zu bügeln, nur verschrumpelten Käse auszukratzen.
Es muss an der Kruste selbst liegen. In ihr hat sich ein Universum zur Essenz verdichtet. Wie im Caquelon, so auch im Leben des Menschen: Diese Essenz wird nicht auf Bestellung serviert, man muss Geduld haben und sich durchkämpfen, bis man das Finale erreicht.
Und die Nonnen? Ihre Kämpfe verdunsten im Schweigen. Vielleicht ist man auf den Namen gekommen, um die Contenance am Tisch zu retten. Die einen mögen die Kruste, die andern verabscheuen sie. Das separiert schon einmal. Zwischen den Mögenden entbrennt oft ein Kampf um die Delikatesse. Dabei dient die Nonne als Schutzschild und mahnt zu stilvollem Benehmen – wer mag schon mit der Gabel Nonnen stechen?
Diese Hypothese führt auch nicht weiter, denn religieuse gibts nicht bloss im Fondue, sondern auch beim Raclette, wie Jacques Montandon in seinem Buch Le Valais à table schreibt: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hätten Ordensfrauen die Familien, die sie besuchten, gebeten, Essensreste für sie beiseite zu legen, insbesondere Käseabschnitte. Auch die zähe Aussenhülle des Laibs, die bei einem Raclette als ungeniessbar übrigbleibt. Durch eine Indiskretion habe man erfahren, dass die Nonnen mit diesen ausgeschabten «Schwarten» bemerkenswerte Gratins kochten. War die Käserinde etwa doch geniessbar? Versuche erwiesen sich als überzeugend, und so kam es, dass man selber ass, was vorher als «l’assiette aux religieuses» reserviert war, als Nonnenteller.
Grossmütter dagegen gelten nicht als Bettelschwestern. Also kann man in der Deutschschweiz kaum von einem Grossmueti-Täller ausgehen. Es herrscht weiterhin Unklarheit. In solchen Härtefällen zieht man sich am besten ins Reich der Sagen und Märchen zurück. Das Idiotikon weist einen Weg: «Alp-Mueter: mythisches Wesen, das als altes, buckliges Weibchen, nachdem die Sennen die Alp verlassen, in den Alphütten haust. Ein Jäger erblickte es einmal am Herd stehend mit Kochen beschäftigt, von Kobolden in Gestalt kleiner Tiere umtanzt, zu deren einem es sprach: Du, Hans-Chäsperli, chotz-mer Schmalz! Worauf derselbe Butter in Hülle und Fülle erbrach.»
Butter ist zwar noch keine Kruste, aber immerhin ein Anfang.