Tafeln wie der Sonnenkönig
Die TV-Serie «Versailles» hat mich an ein Diner erinnert, das ich nie vergessen werde – à la table du roi, am Tisch des Königs nach einem Rundgang durch Schloss Versailles. Neunzehn Gänge plus Dom Pérignon in der antichambre du roi. 10 Köche und 20 Kellner verwöhnen 30 Gäste mit Service à la française.
Was Gott isst, weiss kein Mensch. Was die französischen Könige gegessen haben, dagegen schon. Vor allem bei absolutistischen Kronenträgern, die sich in Hermelin hüllten wie in himmlisches Gewölk, macht der Satz «Speisen wie Gott in Frankreich» ausgesprochen Sinn.
«Er konnte essen», schrieb Prinzessin Palatine 1718 über ihren Schwager Louis XIV (1638–1715): «Vier Teller Suppe, einen ganzen Fasan, ein Rebhuhn, eine grosse Platte Salat, zwei Scheiben Schinken, Lamm mit Knoblauchjus, Pastete und Gebäck, Früchte und hart gekochte Eier.»
Louis XIV, Le Roi Soleil, hatte die Nahrungszufuhr von der lebenserhaltenden Notwendigkeit zu einer Zelebration der Macht ausgebaut. Le Grand Couvert war die Tafel coram publico, Le Petit Couvert das Mahl in kleinem Kreis.
Auf Eingeladung von Moët Hennessy, dem Haus von Dom Pérignon, darf unser Grüpplein Ende Oktober 2009 nachts die Ausstellung «Louis XIV – l’homme et le roi» besuchen und anschliessend im Schloss speisen.
Nachdem zwei Wächter die Gästeliste kontrolliert haben, öffnen sie die Gittertore und der Kleinbus fährt in gemessenem Tempo über die Place des Armes.
Eine kleine, ältere Dame empfängt uns. Mit leiser Stimme entlädt sie fortan in hastig gesprochenem Französisch die volle Ladung an Informationen, die es zu dieser Schau zu vermitteln gilt. Ein merkwürdiges Gefühl befällt uns, als wir durch den leeren, einer Wandelhalle ähnelnden Korridor schreiten. Die Dimensionen sind riesig, und man begreift, dass einst im ganzen Palast 200 «chaises d’affaires» für den König verteilt worden waren.
Eine Treppe höher steht man mittendrin im Grand Siècle, dem Zeitalter von Louis XIV. Die ganze Wucht seiner Pracht stürzt sich wie eine Lawine der Bedeutungsschwere auf uns, im Saal – wie die andern mit weinroten Wänden ausgekleidet – hängen drei Porträts, darunter das berühmteste: Louis XIV monumental (277×194 cm), gemalt 1702 von Hyacinthe Rigaud, aufbewahrt im Louvre.
Es ist das universale Bild des Königs: Louis in weissen Seidenstrümpfen stehend, umhüllt von einer gewaltigen Schleppe mit goldenen Lilien auf blauem Samt, gefüttert mit Hermelin, und am Gürtel ein Schwert, das jeden Normalsterblichen sofort zu Boden reissen würde. Das Gesicht des Königs wirkt schlaff und füllig – die Last der Jahre (1702 ist er 64 Jahre alt), der Verantwortung und der Ausschweifung. Auf einem anderen Gemälde steht er fast in gleicher Pose, trägt aber Rüstung, und ein weiteres grossformatiges Bild zeigt «Le roi-soleil» als Friedensfürsten.
Die Bilder wirken alle ähnlich. Wer hier den «l’homme» sucht, den Menschen Louis, wird kaum fündig, und je mehr Bilder und Büsten wir sehen, desto stärker wundern wir uns: Das sind Zeremonialmasken, keine menschlichen Gesichter. Der Sonnenkönig bleibt abgehoben und unnahbar, eine Ikone der Macht.
Bis wir plötzlich vor einem Objekt stehen, das wie ein Votivbild aussieht. Es ist ein weiteres Porträt des Königs, aber diesmal völlig anders, lebensecht bis in die Poren. Antoine Benoist hat es um 1705 aus Bienenwachs geschaffen. Dieser Louis zeigt Charakter. Die Lippen nach unten gezogen, schaut der König nach rechts; markante Nase, Zweitagebart; die Perücke sieht aus, als ob der König eben erst aufgestanden wäre und sie sich fahrig übers Haupt gestülpt hätte.
Die Aussteller attestieren diesem Wachsrelief einen «überraschenden, ja erschreckenden Realismus». Benoist durfte mehrere Abdrücke direkt vom Gesicht des Königs nehmen – man kann unter den im Licht ergrauten, hinten braunen Haaren ein Ohr und auf der Haut sogar Narben der Pocken erkennen, die der König in seiner Jugend durchlitten hat.
A la table du roi
Das Mahl ist grandios. Stimmungsvoller Raum, hervorragendes Essen – was Dom Pérignon in der antichambre du roi aufgetischt hat, bleibt ein Leben lang in Erinnerung. Louis XIV und der Mönch aus Hautvillers lebten beide von 1638 bis 1715. Persönlich gekannt hatten sie sich nicht, dem König aber waren Dom Pérignons Weine vertraut.
Sein Grand Couvert pflegte der Sonnenkönig nachts um zehn einzunehmen. In der antichambre, einem Vorzimmer zu seinen intimeren Gemächern (das Wort antichambrieren hat eine klare Herkunft), wurde eine Tischplatte aufgebockt. Der König nahm in der Mitte der Längsseite Platz, die Familie links und rechts von ihm, die beiden Tischenden waren Auserwählten vorbehalten; die Seite gegenüber dem König blieb zugänglich für den Service und fürs Publikum mit freier Sicht auf die edle Tischgesellschaft.
Bedient wurde à la française (nicht à la russe, dem heute üblichen Service mit einem Gang nach dem andern). Die Gerichte wurden in vier Services aufgetragen, das Personal schöpfte und liess dann Schüsseln und Platten auf der Tafel stehen.
«Der ‹service à la française› erlaubt der Elite der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, ihre Ideale und Träume auf brillante Weise zu präsentieren», schreibt der Historiker François de Capitani. «Der gedeckte Tisch ist ein Kunstwerk […]. Man sucht stets die Symmetrie. Nur die grossen Fleischstücke oder Fische sind Einzelplatten, alle anderen Gerichte werden paarweise serviert; also zwei, vier oder sechs Entrées, aber nie drei oder fünf» (Soupes et citrons, 2002).
So nehmen wir nach dem Apéro im Spiegelsaal Platz in der antichambre du roi zu einem Menü aus der Zeit des Sonnenkönigs, adaptiert und zubereitet von Jean-François Piège (Paris, 2 Michelin-Sterne).
Zehn Köche und zwanzig livrierte Kellner für dreissig Gäste; Küche und Toilette ein gefühlter Kilometer entfernt, gespenstisch der Gang aufs WC durch spärlich illuminierte Korridore mit einer Wachperson im Rücken.
Service eins, les hors d’œuvre. Auf der Tafel sind Brot, Suppenschüsseln und kalte Entrées schön ausgewogen arrangiert: Ballotine royale mit Fasan, Pastetchen mit Fleischfüllung, Auster unter Sauce und Hummer in Aspik.
Was fehlt? Gläser! Zu Louis Zeiten gab es geblasene konische Gläser, aber die standen nicht auf dem Tisch (wo sie wahrscheinlich die Symmetrie gestört hätten), sondern wurden vom Personal auf Wunsch gereicht. Ich hebe also leicht den Finger, ein älterer Maître d’hôtel schreitet herbei, schenkt Dom Pérignon Œnothèque 1976 in ein Glas, reicht es mir, ich trinke, gebe das Glas zurück und der Maître entfernt sich.
Nun schöpfen die Diener les potages, die Suppen, in vier Schalen, die an jedem Platz stehen: Rindsbouillon mit Crissini und Goldfolie, Kastaniensuppe mit Trüffeln, Kürbissuppe, Bisque mit Steinpilzen. Ich komme bereits auf acht Gänge.
«Les rôts», die Braten, der zweite Service: Jakobsmuscheln mit Austernjus, wilder Lachs, Wildente, geschmorter Hase, gebratene Rindsfiletstücke mit Aal.
Service drei, les entremêts: riz à la royale (Reiskugeln wie Golfbälle, gefüllt mit foie gras), Blattsalat mit Goldblättchen, Morchelsoufflé, fromage glacé (gefrorene Parmesanspäne) und Œuf dur, hartes Ei – ein Macaron, die beiden Schalen aus zart gebackenem Eiweiss, die Füllung aus Eigelb und Senf.
Und vier, le fruit. Die Kellner räumen die Kandelaber ab. Macht nichts, es sind ohnehin Elektrokerzen (die Furcht vor einem Brand ist grösser als das Bemühen um vollendete Authentizität). Als wir die antichambre verlassen, sind die Ständer frisch bestückt – mit dem 19. Gang, Kerzen aus Schokolade.