Aufwärmen zur Genusswoche 2017
Neuchâtel präsentiert sich als Ville du Goût, assistiert als Parrain von Claude Frôté, Restaurant La Bocca in Saint-Blaise (1 Stern, 16 Punkte).
Im prachtvollen mittelalterlichen Weinkeller im historischen Museum von La Neuveville hat Josef Zisyadis, ehemaliger Nationalrat, derzeitiger Co-Präsident von Slow Food Schweiz und begnadeter Gourmet vor dem Herrn, die Semaine du Goût alias Genusswoche eingeläutet. Die Woche der kulinarischen Freuden findet vom 14. bis 24. September 2017 in der ganzen Schweiz statt.
Der geeichte Politiker brauchte nicht viele Worte, um Sinn und Zweck der Genusswoche zu erklären. Immerhin findet sie zum 17. Mal statt und hat sich sogar in der gastronomisch eher genusslahmen Deutschschweiz herumgesprochen. Anders als einst oft im Parlament, sprach Zisyadis zu Gleichgesinnten, zu Menschen, die mit Essen und Trinken von Haus aus und von Berufes wegen so vertraut sind, dass ihnen das Anliegen des Initiators der Genusswoche nicht lange erklärt werden muss: Unser Essen ist gefährdet.
Je industrieller die Lebensmittelproduktion wütet, desto ungesunder wirkt sich die Nahrung auf Körper und Seele aus. Es gelte dringend, mahnt die Charta der Genusswoche, «die Vielfalt der in unserem Land vertretenen Geschmäcke und Ernährungskulturen aufzuwerten, die Traditionen zu erhalten und die kulinarischen Innovationen zu begünstigen, das handwerkliche Können zu pflegen und anzuerkennen, die lokale und nachhaltige Produktion zu fördern».
Das klingt vernünftig und so selbstverständlich. Ist es aber längst nicht mehr. Zwischen den Barriques, in denen sein frischer Chardonnay La Neuveville ruht, während der Jahrgang 2014 ausgeschenkt wird, knurrt Claude Frôté zu den Umstehenden: «Hunde werden heute besser ernährt als Kinder.» Noch übler als Wolfskarikaturen im Autokissenformat ergeht es Jungvögeln in der domestizierten Wildnis – ihnen bekommt das Fastfood schlecht, das von einer übersättigten Bevölkerung weggeworfen wird. «Jungvögel, die mit Pommes frites, Spaghetti und anderen Essensresten gefüttert werden, erhalten zu wenig Protein, das für ihr Wachstum entscheidend ist», erklärte dieser Tage die Vogelwarte Sempach die Resultate einer Untersuchung mit Dohlen in Murten. Die Dohlen legen kleinere Eier, aus denen geringere Küken schlüpfen – mit geschrumpften Lebenschancen.
Lassen sich solche Erkenntnisse auf den Menschen übertragen? Nun, Tierbeobachtungen führen zu vielfältigen Erkenntnissen, sonst gäbe es längst keine Tierversuche mehr. Die Geschichte mit den convenience gefütterten Vögeln ist nur ein Indiz unter vielen, das unterstreicht, wie wichtig es ist, sich um die Ernährung zu kümmern. Deshalb hat Zisyadis die Semaine du goût 2000 ins Leben gerufen, zehn Jahre nach Beginn des französischen Vorbilds.
Eine Woche lang sollen Denken und Werken ums Essen kreisen. Restaurants bieten besondere Menüs an oder setzen die Preise für junge Leute herunter. Spitzenköche demonstrieren Kindern die Unterschiede des Geschmacks – so hat etwa der verstorbene Maître de Cuisine Philippe Rochat in Crissier mit Primarschülern Rüebli degustiert und gezeigt, was charakteristischer Geschmack bedeutet und was gar keiner ist. Man sollte zumindest einmal im Jahr in Ruhe über den Wochenmarkt schlendern und stressfrei einkaufen. Man kann sich über kulinarische Berufe vom Landwirt bis zur Tortenkünstlerin kundig machen. Oder während dieser einen Woche auf jeder Verpackung das Kleingedruckte lesen und sich zu Gemüte führen, welche E-Nummern wir uns Tag für Tag einverleiben.
Die Schweiz ist kein billiges Land, aber in keinem andern Land ist die Ernährung im Vergleich zu den Einkommen so günstig wie hier. Essen soll wieder an Wert und Wertschätzung gewinnen, verlangt die Charta der Genusswoche. Das Geschäft mit elektronischem Schnickschnack gedeiht, während die Gastronomie schon seit Jahren serbelt. Gute Küche und gesundes Essen soll wieder ein Bedürfnis werden.