Der exklusivste Wein der Schweiz
130 Jahrgänge in einem Fass? Der vin du glacier lässt keinen kalt.
Vin du glacier, Gletscherwein – die Bezeichnung klingt irritierend, denn aus dem ewigen Eis tröpfelt kein Rebensaft, höchstens Gletschermilch. Gletscherwein heisst das exklusive Getränk, weil es in der Nähe eines Gletschers, des Glacier de Moiry im Val d’Anniviers (Eifischtal), aufbewahrt wird. In den Kellern liegt der Weisse bei gleichmässig tiefen Temperaturen in Lärchenfässern und entwickelt sich nur schwach weiter. Die Hefe schläft, die Säure ruht in kühler Gelassenheit.
Der vin du glacier taucht zu Beginn des 18. Jahrhunderts erstmals in Dokumenten auf, dürfte aber viel weiter in die Ursprünge des Walliser Weinbaus zurückreichen. «Im Wallis kultiviert man nachweislich seit der Eiszeit Reben und trinkt Wein», steht im umfassenden Werk Rebe und Wein im Wallis. Also fast 700 Jahre vor dem Eindringen der Römern: «Die Anfänge des Weinbaus gehen zweifellos auf unsere norditalienischen und Tessiner Nachbarn zurück, die damals unter keltischem und griechisch-etruskischem Einfluss standen. Die Analyse von Pflanzenresten aus dem See Montorge [bei Sion] belegt weinbauliche Aktivitäten zwischen 800 und 600 vor Christus.» Die ersten schriftlichen Erwähnungen von Rebe und Wein stammen aus dem 11. Jahrhundert.
Der Gletscherwein erinnert an die frühere Lebensweise in den Walliser Seitentälern, an die Transhumanz, als die Menschen oben lebten und unten, im Rhonetal, nur temporär hausten, um Wein und andere landwirtschaftlichen Produkte anzubauen. Bevor die Rhone durch die Korrektion von 1863 bis 1894 in ein enges Bett gezwängt und der Talboden entwässert wurde, mäandrierte der Fluss nach Lust und Laune hinab zum Genfersee, die Landschaft war sumpfig, ein Mückenparadies, und das Tal wurde von Überschwemmungen heimgesucht.
Die Bauern aus dem Val d’Anniviers kelterten ihre Weine in der Region Sierre. Sie pressten die Trauben nach der Vergärung, trugen die Säfte in ihre Dörfer auf über 1000 Meter über Meer und gossen sie ins Gemeinde- oder Familienfass. Dort blieben die Weine, ruhten lang und reiften kaum und wurden jedes Jahr nachgefüllt. Nicht jede Familie besass Reben, der vin du glacier bot entsprechend Prestige.
Die Bürgerschaft von Grimentz (1570 Meter über Meer) besitzt vier Fässer. Das älteste, le tonneau de l’Evêque (Bischofsfass) von 1886, enthält im Jahr 2017 eine Assemblage von 130 Jahrgängen, verschnitten aus einem weissen Sortenbouquet von Rèze (Resi), Ermitage (Marsanne), Malvoisie (Pinot Gris), Petite Arvine, Chasselas und Humagne Blanche. Der Kellermeister füllt das älteste Fass aus dem zweitältesten (von 1888), giesst dafür aus dem drittältesten (1934) nach und ergänzt zum Schluss das jüngste (1969) mit dem neuen Jahrgang.
Bis in die 1930er-Jahre, als die Weinberge von Sierre durch eine Reblausepidemie zerstört wurden, dominierte Rèze oder Resi den Weinbau in dieser Region bis zu drei Viertel. Heute ist die Sorte fast verschwunden, es gibt noch knapp zwei Hektaren (2015). Resi zählt zu den ältesten Rebsorten im Alpenraum, die bislang erste Erwähnung steht auf einem lateinischen Pergament von 1313, bekannt als Registre d’Anniviers, in dem es heisst: «tribus generibus racemorum bene et sufficienter maturorum, scilicere de neyrun, de humagny et de regy», drei Arten von Trauben, gut und genügend reif, das kann man sagen von neyrum (Landroter?), humagny und regy. Bis Anfang des 21. Jahrhunderts dachte man, Rèze oder Resi sei nur im Wallis verbreitet, doch dann identifizierte man dank DNA-Analysen die Sorte im Vallée de la Maurienne in Savoyen wie auch im französischen Jura. Man nimmt an, dass regy mit der Sorte raetica verwandt ist, die einst von den Römern im Alpenraum angebaut wurde.
Der Geschmack des vin du glacier erinnert an Sherry. Der Wein ist oxidiert und leicht maderisiert, hat eine markante, herbe Säure und je nach Fass Aromen von Harz und Liebstöckel. Er ist ein exzentrischer Trunk, das Gegenteil von Süsswein. Man trinkt den Wein direkt ab Fass an besonderen Anlässen, vor allem an Beerdigungen, aber auch an privaten und öffentlichen Feiern – zuerst sind die Honoratioren aus Politik, Militär und Kirche an der Reihe, dann das Volk. Den Wein kann man nicht kaufen.
«Gletscherwein lässt keinen kalt, der ihn probiert. Hervorgegangen aus Brauchtum und mündlicher Überlieferung, entgleitet er jeder önologischen Regel. […] Die grossen Önologen sind von ihm am meisten begeistert», schreibt Anne-Dominique Zufferey in Rebe und Wein im Wallis.
Der vin du glacier ist einzigartig, nicht nur in der Schweiz. Seit den 1980er-Jahren dürfen ihn Touristen in Grimentz probieren.
Text aus: Das kulinarische Erbe der Schweiz, Band 5, Echtzeit-Verlag, Basel 2016.