Der Spatz in der Gamelle
In der schweizerischen Militärküche bezeichnet man den Pot-au-feu als Spatz. Warum eigentlich? Pot-au-feu ist doch ein ziemlich fleischiges Gericht, ein Spatz dagegen nicht einmal eine halbe Portion. Aber ideal, um einem schweren Bauch zu Leibe zu rücken.
Spatzen wurden von den Römern gegessen, aber als Rezept für Gulaschkanonen hat kein Sperlingsgericht überlebt. Ein befreundeter Koch meint, dass man in einer Feldküche vor 100 und mehr Jahren kaum Schnitzel à la minute gebraten, sondern Suppen und Eintöpfe gekocht habe. Kuhfleisch im Wasser. In solchen Riesentöpfen sind die Fleischstücke verschwunden wie die Spatzen am Firmament. Heute kann man ein Gericht wie Pot-au-feu überhaupt nicht mehr mit Vögelchen in Verbindung bringen, auch nicht in der Militärküche.
Der Larousse gastronomique preist den Pot-auf-feu als «apprêt spécifiquement français», als «ausgesprochen französisches Gericht, das gleichzeitig Suppe (le bouillon), gesottenes Fleisch (Rindfleisch vor allem) und Gemüse (Knollen und Blätter) liefert». Die Varianten seien vielfältig wie stets bei Eintöpfen und Suppen. Für einen guten Pot-au-feu braucht es verschiedene Fleischstücke mit unterschiedlicher Textur und wechselndem Geschmack: magere Stücke, fettere Stücke und kollagenreiche Stücke; dicke Beinscheiben liefern dazu das Mark.
Wie aber kommt es, dass ein französisches Nationalgericht in der Schweizer Armee als «Spatz» verniedlicht wird? Das Kochen von festen Teilen in einem Topf Wasser zwecks Ernährung ist gewiss keine französische Erfindung, sondern kulinarischer Grundkurs. Der Unterschied liegt in der Zubereitung, wie Alexandre Dumas in seinem Grand Dictionnaire de Cuisine 1873 geschrieben hat: «Ich wiederhole, dass die französische Küche ihre Überlegenheit über alle andern Nationen ausschliesslich der überragenden französischen Bouillon zu verdanken hat.»
Während man in der gutbürgerlichen Küche reichlich edle Zutaten in den Pot-au-feu gab, waren die Militärköche im Feld weniger wählerisch und nahmen, was ihnen die Hände geriet, warum auch nicht Spatzen. Das Schweizerdeutsche Wörterbuch Idiotikon bezeichnet Spatz als «tägliche Fleischration des Soldaten», eigentlich «das kleine oder als klein bespöttelte Stück Fleisch in der Suppe». Zitiert wird ein Zeitungsartikel von 1922: «Vorher [vor der Zeit Napoleons I.] hatten in der buntscheckigen Eidgenossenschaft … einzig die Stände Bern und Zürich ihren Milizen neben Sold und Brot auch noch das Fleisch, den Spatz, geliefert.» In einem Manöverbrief von 1887 war zu lesen: «Die Grützsuppe hat sich morgens auch bei den leidenschaftlichen Kaffeemannen rasch eingebürgert; Mittags- und Abendsuppe mit dem auf beide Male verteilten Spatz sind geradezu delikat».
Eine überraschende Erklärung für den Spatz in der Suppe hat die Anfrage bei der militärischen Fachbibliothek in Bern erbracht: Im Roman Eugénie Grandet von Honoré de Balzac von 1834 wird der Herr und Meister gefragt, ob er nicht ein oder zweimal in der Woche Pot-au-feu essen würde: «Ja.» – «Dann muss ich in die Metzgerei.» – «Überhaupt nicht, Cornoiller soll Raben töten. Dieses Wild gibt die beste Bouillon der Erde.»
Mit welchem Fleisch auch immer, die Suppe braucht Zeit. Alexandre Dumas beschreibt im Grand Dictionnaire die Zubereitung des Pot-au-feu seitenlang und erklärt, dass die Suppe sieben Stunden köcheln müsse: «faire sourire le pot-eu-feu», wie die Portières sagten.
Mag sein, dass sich ein martialisches Gericht wie militärischer Pot-au-feu auch nach sieben Stunden Simmerns nicht «zum Lächeln bringen» liess und der spärliche Inhalt auf Spatzenformat schrumpelte. Angesichts der dürftigen Fleischgabe dürfte sich mancher Soldat mit der Einsicht getröstet haben, lieber den Spatz in der Gamelle als die Taube auf dem Dach.