Vom Zopf zur Brezel, vom Tirggel zum Änisbrötli

Teig lässt sich formen. Da ist die Versuchung gross, mit Gebäck etwas darzustellen – aus einer Laune heraus, um Anderen eine Freude zu bereiten oder um eine kultische Hoffnung zu hegen.

Keinem anderen Gebäck gebührt die Bezeichnung «Gebildbrot» so einleuchtend wie dem Zopf. Das Seufzen und Wehklagen aus Küchen im ganzen Land schwillt besonders vor Feiertagen zu biblischen Dimensionen an, wenn Tausende versuchen, zwei Stränge aus Weissmehlteig zu verknüpfen. In der Mitte übers Kreuz platzieren, den unteren über den oberen legen, dann den nunmehr unteren wieder über den oberen, aber wo? Links oder rechts? Und dann wie weiter. Bald hat man sich vertan, der Knoten wird gelöst, alles nochmals von vorne. Bis man einmal mehr das Kochlehrbuch aus der Schule mit den Bildchen konsultieren muss.

Wer mag da noch zweifeln, dass ein solches Gebäck nicht irgendwie höheren Geblüts ist? Dass diese Form, die nur professionelle Bäcker problemlos im Griff haben, nicht bloss aus einer Laune heraus, quasi als Fingerübung, entstanden sein kann?

Diese Erklärung der Wurzel der «Züpfe» ist nicht von der Hand zu weisen, sogar das «Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens», das in den 1930er-, 1940er-Jahren geschrieben wurde und dem Kritiker deswegen einen Hang zu allzu teutonischen Blut- und Bodendeutungen vorhalten, übt Zweifel: «Der Teig ist ja ein ideales Medium für Figuren jeder Art, hier konnte der begabte Volkskünstler sich künstlerisch betätigen; und wer die Geschichte der Gebildbrote schreibt, müsste zuerst alle Formen und Motive der Volkskunstplastik sammeln.»

Da verliert man sich rasch einmal in einem Dickicht von Vermutungen. Ein klares Vorbild könnte das gezöpfelte jüdische Festgebäck Challah sein. Die Antike bietet den Zopf, Symbol für ein gebackenes Haarteil, als Substitut für Menschenopfer. Im alten China wurde in der Nacht vor Neujahr etwas Zopfähnliches den Ahnen geopfert.

Ganz anders die Version des Historikers François de Capitani (1950-2012), der sich mit dem Ancien Régime beschäftigt hat: «Ein Festtagsbrot besonderer Form waren die Wastelen. Sie wurden zu Neujahr gebacken und verschenkt. Die Wastelen wurden in Form einer grossen Brezel hergestellt. Offenbar handelte es sich um einen Vorläufer der heutigen Züpfen» (Festliches Essen und Trinken im alten Bern, 1982).

Eine Wastele kannte man in der Nordwestschweiz nicht, aber die Brezel. Ob ihre schwungvoll-elegante Form aus einem Teigstrang tatsächlich Vorbild für den Zopf war? Der könnte auch aus dem Elsass stammen, als Sinnbild für das geflochtene Haar blonder Elsässerinnen, die auf der anderen Seite der Landesgrenze von Basel leben. Diese Herleitung möchte der Ethnologe Dominik Wunderlin, geboren 1953, nicht beschwören, erinnert sich indessen an die Bedeutung des Zopfs in seiner Kindheit im Baselbiet: «Meine Mutter hat auf Neujahr einen Zopf gebacken. Das war das einzige Mal im Jahr, dass wir einen Zopf erhalten haben.»

Heute gibt es den Zopf nicht nur jeden Sonntag, man kann ihn auch wochentags in den Läden finden. Zu verdanken haben wir diese «Grossherzigkeit» den Grossverteilern, die mit der Respektierung von Jahrestagen, die mit kulinarischen und spirituellen Inhalten untermauert sind, Mühe bekunden. Es fällt offenbar schwer, nicht schon zur 1.-August-Feier Grittibänze anzubieten.

Als ehemaliges einmaliges Neujahrsgebäck hat der Zopf der Bedeutung des Jahreswechsels gedient, er wurde mit den besten Zutaten zubereitet. Der Teig aus feinstem Weissmehl geknetet und dann in eine spezielle Form gebracht. Er ist ein Gebildbrot.

Ein Gebäck also, das von Hand frei gebildet wird. Ein Zopf wird geflochten, ein Meitschibei gebogen, einem Schenkeli in den Händen die Opulenz angepatscht, ein Grittibänz halbwegs anatomisch zusammengewerkelt. Es liegt auf der Hand, dass der Aufwand, der für solche Gebäcke betrieben wird, nach tieferer Bedeutung verlangt als bloss Profit und Verzehr.

Die zweite Kategorie Backwaren mit Bedeutung ist das Brauchtumsgebäck. Im Gegensatz zum Gebildbrot mit seiner frei geschlungenen Form beruht die Darstellungsweise von Brauchtumsgebäck auf einer fixen Schablone wie ein blechernes Ausstechförmli oder ein Model, einst geschnitzt aus Birnenholz, heute in Kunststoff gegossen. Die Motive der Models sind oft sehr filigran und komplex gearbeitet, deshalb wird Gebäck wie Änisbrötli oder Tirggel nicht aus Hefeteig hergestellt und eher getrocknet als gebacken. Würde der Teig aufgehen, wäre die Zeichnung rasch deformiert.

Kalendarische Schwerpunkte für Gebildbrote und Brauchtumsgebäck bietet vor allem der Feiertagsbogen vom Nikolaustag bis Ostern: Samichlaus am 6. Dezember mit Grittibänz und Lebkuchen-Nigginäggi, Weihnachten am 24./25. Dezember mit Zopf und Weihnachtsgutzi, gestochenes Brauchtumsgebäck aus Mailänderli- oder Brunsliteig, Zimtsterne oder gemodelte Änisbrötli.

An Silvester befindet sich typisches Neujahrsgebäck wie Zopf und regionale Spezialitäten noch im Ofen, damit sie dann am ersten Januar frisch auf dem Tisch liegen oder verschenkt werden können. Nach der Zeit der Gewichtskuren folgen an Fasnacht, 40 Tage vor Ostern, Zigerkrapfen, Fasnachtsküchlein und andere schwimmend gebackene süsse Leckereien wie Schenkeli, auf Französisch Cuisse de dame genannt.

Seit die Fastenzeit ihre ursprüngliche Bedeutung als Phase eines rituellen Verzichts aus spirituellen Gründen verloren hat, nützt sie auch profaneren Werten, insbesondere dem Gewichtsverlust. So steht die Anhäufung von frittierten Süssigkeiten an wenigen Fasnachtstagen kurios im Jahresverkauf. Einst als letzte Gelegenheit zur Schwelgerei vor der Fastenzeit gedacht, wirkt sie nun als erste Versuchung einer ästhetisch begründeten Hungerkur.

Am ersten Sonntag am oder nach dem Frühlingsvollmond am 21. März folgt Ostern, das wichtigste Fest der Christen. Nun darf, wer sich an die Traditionen hält, wieder zuschlagen. Osterhasen aus Schokolade, Osterlämmer aus Butter oder als Biscuit, Colomba pasquale, die Ostertaube aus dem Tessin und Norditalien, als Gebildgebäck mit eindeutiger Herkunft: Die Taube, bedeutungsschwer belastet als Seelenvogel, Friedenssymbol, Kundschafterin (um Noah anhand eines Olivenzweigs im Schnabel zu berichten, dass Gott die Sintflut gestoppt hat), war einst als Braten die ideale Besetzung für die gastronomische Inszenierung auf der Ostertafel, um sich den Heiligen Geist einzuverleiben.

Vielleicht wurde das Essen zu schwer, vielleicht regte sich Mitleid für die Tauben, jedenfalls wurde der Vogel aus Fleisch und Knochen ersetzt durch Nachbildungen aus Marzipan oder Teig, um 1900 dann als Variante des Panettone, lanciert von der Firma Motta, die ihren fluffigen Hefemocken der wundersamen Vermehrung anvertraute und an Ostern mit anderer Form und Bedeutung in die Verkaufsauslagen schob.

Sommer und Herbst sind kaum mit traditionellen Festtagen gesegnet, denn vor dem Industriezeitalter, als sich die Mehrheit der Bevölkerung selbst ernähren musste, hatte man schlicht kaum Zeit zu feiern. Das Festen begann mit der Kilbi im Spätsommer, wenn auch die Menschen von den Alpen in ihre Dörfer zurückgekehrt waren.

Zu guter Letzt schliesst sich der Jahresverlauf mit einem Gebäck, das ebenfalls zu jeder Zeit verzehrt werden kann, der Brezel. Gemeint sind nicht Brätzeli oder Bricelets, sondern Brezeln aus Hefeteig, zumeist als Laugengebäck gefertigt und zu Bier genossen. Es gibt gewiss noch Beizen, wo die Bierbrezeln auf den Tischen an hölzernen Minigalgen hängen.

Auch sie sind Gebildbrote, geschlungen aus einem Strang, um die Arme von Mönchen in Gebetshaltung zu symbolisieren.

Es dreht sich bei Gebildgebäck mehr um Brotartiges wie Grittibänz, Zopf, Brezel oder Agatharingli und bei Brauchtumsgebäck eher um süssliche Backwaren wie Lebkuchen-Samichlaus, Mailänderli oder Tirggel, dazu die österlichen Leckereien wie Colomba pasquale, Butter- und Biscuitlämmchen sowie all die Schokoladehasen. Nicht zu vergessen die frittierten Gebäcke zur Fasnacht wie Chnöiblätz, Schenkeli und Krapfen.

Die meisten Gebäcke reichen ins Mittelalter zurück und tiefer. Ein Gebildbrot freilich ist keine hundert Jahre alt und explizit für einen einzigen Tag kreiert worden: der 1. August-Weggen. Erstmals begangen am 1. August 1891, wurde der Nationalfeiertag 1899 mit einem politischen Entscheid implementiert. 1959 dann lancierte der Bäckerverband den 1. August-Weggen – nicht nur zur Verehrung der Mutter Helvetia, sondern aus wirtschaftlichen Gründen. Die Bäcker im Land suchten einen extra Ab- und Umsatz, also schuf man einen einheitlichen Weggen aus Zopf- oder Weggliteig. Mehr Freiheit gab es nicht. Der Weggen darf bloss ein paar Tage rund um den Nationalfeiertag angeboten werden. Tatsächlich hält man sich an die Abmachung, sogar die Grossverteiler.