Waschen bis auf die Knochen
Eine Stunde im Leben einer Serviertochter gemäss den Vorstellungen, wie sie im Praxishandbuch zum Schweizer Lebensmittelrecht formuliert worden sind: «Die Fachleute verstehen unter einer normalen Händereinigung eine solche, die wenigstens eine Minute dauert.» Vorzunehmen ist die solchige nach jeder Handlung, welche die Serviertochter mit unterschiedlichen Lebensmitteln oder verschiedenen Keimen in Verbindung bringt.
Ort des Geschehens: Eine Landbeiz. Zeit: Nachmittag. Personen: Alexandra, die Serviertochter, berechtigt, Coupes und Sandwiches zuzubereiten, da der Koch beim Einkaufen ist.
Am Stammtisch bestellen drei Gäste Kaffee mit Pflümli, am Nebentisch wollen die vier Waldarbeiter bezahlen. Sie haben es eilig, die Mittagspause ist vorbei. Die Serviertochter zählt das Retourgeld auf den Tisch.
Eine Minute Händewaschen.
Sie räumt den Tisch der Waldarbeiter ab und schabt in der Küche die Speisereste von den Tellern.
Eine Minute Händewaschen.
Sie kehrt in die Gaststube zurück und schliesst die Tür. Der Griff gilt als weitere Quelle potentiellen Übels.
Eine Minute Händewaschen.
Zwei Velofahrer betreten das Lokal. Sie haben Hunger und bestellen ein Käse- und ein Schinkensandwich.
Eine Minute Händewaschen.
Brot schneiden und buttern.
Eine Minute Händewaschen.
Käse schneiden, Brot belegen.
Eine Minute Händewaschen.
Schinkenscheiben aufs Brot legen.
Eine Minute Händewaschen.
Teller mit Tomaten garnieren.
Eine Minute Händewaschen.
Gurken aus dem Glas fischen, schneiden und auf dem Teller anrichten.
Eine Minute Händewaschen.
Alexandras Kinder stürmen mit Bello ins Lokal und möchten Süssigkeiten kaufen. Bello schäumt vor lauter Freude, er jault und leckt besessen Frauchens Hände.
Eine Minute Händewaschen.
Sie gibt die gewünschten Colafröschli und zieht von ihrem Nachwuchs je fünfzehn Rappen ein.
Eine Minute Händewaschen.
«Zahlen», ruft’s vom Stammtisch. Leicht verstimmt kassiert Alexandra, denn nun muss sie wieder
eine Minute Händewaschen.
Der Koch ist zurückgekehrt. Alexandra hilft beim Auspacken der Waren und räumt die leeren Schachteln weg.
Eine Minute Händewaschen.
Eine knappe Stunde ist verflossen. Alexandra hat sich dreizehn Minuten lang die Hände gewaschen. Bis Feierabend wird sie sie bis auf die Knochen geschrubbt haben. Ob sie nicht besser vierzig Chirurgenhandschuhe übereinander tragen sollte? Alexandra setzt sich mit einem Kaffee an den Stammtisch und raucht eine Zigarette. Betrübt betrachtet sie ihre ausgelaugten Hände. Eine Fliege landet neben der Kaffeetasse. Treffsicher knallt Alexandra ihre Hand auf das Ungemach.
Eine Minute Händewaschen.