Culinarium
Waschen bis auf die Knochen
Waschen bis auf die Knochen
Eine Stunde im Leben einer Serviertochter gemäss den Vorstellungen, wie sie im Praxishandbuch zum Schweizer Lebensmittelrecht formuliert worden sind: «Die Fachleute verstehen unter einer normalen Händereinigung eine solche, die wenigstens eine Minute dauert.» Vorzunehmen ist die solchige nach jeder Handlung, welche die Serviertochter mit unterschiedlichen Lebensmitteln oder verschiedenen Keimen in Verbindung bringt.

Ort des Geschehens: Eine Landbeiz. Zeit: Nachmittag. Personen: Alexandra, die Serviertochter, berechtigt, Coupes und Sandwiches zuzubereiten, da der Koch beim Einkaufen ist.
Am Stammtisch bestellen drei Gäste Kaffee mit Pflümli, am Nebentisch wollen die vier Waldarbeiter bezahlen. Sie haben es eilig, die Mittagspause ist vorbei. Die Serviertochter zählt das Retourgeld auf den Tisch.
Eine Minute Händewaschen.
Sie räumt den Tisch der Waldarbeiter ab und schabt in der Küche die Speisereste von den Tellern.
Eine Minute Händewaschen.
Sie kehrt in die Gaststube zurück und schliesst die Tür. Der Griff gilt als weitere Quelle potentiellen Übels.
Eine Minute Händewaschen.
Zwei Velofahrer betreten das Lokal. Sie haben Hunger und bestellen ein Käse- und ein Schinkensandwich.
Eine Minute Händewaschen.
Brot schneiden und buttern.
Eine Minute Händewaschen.
Käse schneiden, Brot belegen.
Eine Minute Händewaschen.
Schinkenscheiben aufs Brot legen.
Eine Minute Händewaschen.
Teller mit Tomaten garnieren.
Eine Minute Händewaschen.
Gurken aus dem Glas fischen, schneiden und auf dem Teller anrichten.
Eine Minute Händewaschen.
Alexandras Kinder stürmen mit Bello ins Lokal und möchten Süssigkeiten kaufen. Bello schäumt vor lauter Freude, er jault und leckt besessen Frauchens Hände.
Eine Minute Händewaschen.
Sie gibt die gewünschten Colafröschli und zieht von ihrem Nachwuchs je fünfzehn Rappen ein.
Eine Minute Händewaschen.
«Zahlen», ruft’s vom Stammtisch. Leicht verstimmt kassiert Alexandra, denn nun muss sie wieder
eine Minute Händewaschen.
Der Koch ist zurückgekehrt. Alexandra hilft beim Auspacken der Waren und räumt die leeren Schachteln weg.
Eine Minute Händewaschen.
Eine knappe Stunde ist verflossen. Alexandra hat sich dreizehn Minuten lang die Hände gewaschen. Bis Feierabend wird sie sie bis auf die Knochen geschrubbt haben. Ob sie nicht besser vierzig Chirurgenhandschuhe übereinander tragen sollte? Alexandra setzt sich mit einem Kaffee an den Stammtisch und raucht eine Zigarette. Betrübt betrachtet sie ihre ausgelaugten Hände. Eine Fliege landet neben der Kaffeetasse. Treffsicher knallt Alexandra ihre Hand auf das Ungemach.
Eine Minute Händewaschen.
Der Spatz in der Gamelle
Der Spatz in der Gamelle
In der schweizerischen Militärküche bezeichnet man den Pot-au-feu als Spatz. Warum eigentlich? Pot-au-feu ist doch ein ziemlich fleischiges Gericht, ein Spatz dagegen nicht einmal eine halbe Portion. Aber ideal, um einem schweren Bauch zu Leibe zu rücken.

Spatzen wurden von den Römern gegessen, aber als Rezept für Gulaschkanonen hat kein Sperlingsgericht überlebt. Ein befreundeter Koch meint, dass man in einer Feldküche vor 100 und mehr Jahren kaum Schnitzel à la minute gebraten, sondern Suppen und Eintöpfe gekocht habe. Kuhfleisch im Wasser. In solchen Riesentöpfen sind die Fleischstücke verschwunden wie die Spatzen am Firmament. Heute kann man ein Gericht wie Pot-au-feu überhaupt nicht mehr mit Vögelchen in Verbindung bringen, auch nicht in der Militärküche.
Der Larousse gastronomique preist den Pot-auf-feu als «apprêt spécifiquement français», als «ausgesprochen französisches Gericht, das gleichzeitig Suppe (le bouillon), gesottenes Fleisch (Rindfleisch vor allem) und Gemüse (Knollen und Blätter) liefert». Die Varianten seien vielfältig wie stets bei Eintöpfen und Suppen. Für einen guten Pot-au-feu braucht es verschiedene Fleischstücke mit unterschiedlicher Textur und wechselndem Geschmack: magere Stücke, fettere Stücke und kollagenreiche Stücke; dicke Beinscheiben liefern dazu das Mark.
Wie aber kommt es, dass ein französisches Nationalgericht in der Schweizer Armee als «Spatz» verniedlicht wird? Das Kochen von festen Teilen in einem Topf Wasser zwecks Ernährung ist gewiss keine französische Erfindung, sondern kulinarischer Grundkurs. Der Unterschied liegt in der Zubereitung, wie Alexandre Dumas in seinem Grand Dictionnaire de Cuisine 1873 geschrieben hat: «Ich wiederhole, dass die französische Küche ihre Überlegenheit über alle andern Nationen ausschliesslich der überragenden französischen Bouillon zu verdanken hat.»
Während man in der gutbürgerlichen Küche reichlich edle Zutaten in den Pot-au-feu gab, waren die Militärköche im Feld weniger wählerisch und nahmen, was ihnen die Hände geriet, warum auch nicht Spatzen. Das Schweizerdeutsche Wörterbuch Idiotikon bezeichnet Spatz als «tägliche Fleischration des Soldaten», eigentlich «das kleine oder als klein bespöttelte Stück Fleisch in der Suppe». Zitiert wird ein Zeitungsartikel von 1922: «Vorher [vor der Zeit Napoleons I.] hatten in der buntscheckigen Eidgenossenschaft … einzig die Stände Bern und Zürich ihren Milizen neben Sold und Brot auch noch das Fleisch, den Spatz, geliefert.» In einem Manöverbrief von 1887 war zu lesen: «Die Grützsuppe hat sich morgens auch bei den leidenschaftlichen Kaffeemannen rasch eingebürgert; Mittags- und Abendsuppe mit dem auf beide Male verteilten Spatz sind geradezu delikat».
Eine überraschende Erklärung für den Spatz in der Suppe hat die Anfrage bei der militärischen Fachbibliothek in Bern erbracht: Im Roman Eugénie Grandet von Honoré de Balzac von 1834 wird der Herr und Meister gefragt, ob er nicht ein oder zweimal in der Woche Pot-au-feu essen würde: «Ja.» – «Dann muss ich in die Metzgerei.» – «Überhaupt nicht, Cornoiller soll Raben töten. Dieses Wild gibt die beste Bouillon der Erde.»
Mit welchem Fleisch auch immer, die Suppe braucht Zeit. Alexandre Dumas beschreibt im Grand Dictionnaire die Zubereitung des Pot-au-feu seitenlang und erklärt, dass die Suppe sieben Stunden köcheln müsse: «faire sourire le pot-eu-feu», wie die Portières sagten.
Mag sein, dass sich ein martialisches Gericht wie militärischer Pot-au-feu auch nach sieben Stunden Simmerns nicht «zum Lächeln bringen» liess und der spärliche Inhalt auf Spatzenformat schrumpelte. Angesichts der dürftigen Fleischgabe dürfte sich mancher Soldat mit der Einsicht getröstet haben, lieber den Spatz in der Gamelle als die Taube auf dem Dach.
Fleischfondue, geschmacklich forciert
Fleischfondue, geschmacklich forciert
Bei einer Diskussion über Trockenfleisch und Pökelsalz hielt mein Leibkoch Christian fest, so schmecke es immerhin aromatisch, ganz im Gegenteil zum Fleisch, das für Fondue chinoise geschnitten werde. Es sei meistens fad und oft wässerig. Tatsächlich?

Tatsächlich. Der fade Geschmack dürfte an der Qualität des Fleisches liegen, die wässrige Konsistenz am Umstand, dass die Scheiben nur deshalb so dünn geraten, weil man das Fleisch tiefgekühlt in der Aufschnittmaschine tranchiert. Von Nachteil ist, dass aus gefrorenem Fleisch kein Saft abrinnen kann und es matschig wird. Wenn dies vermeiden will, schneidet man das Stück kalt, frisch ab Kühlschrank – mit dem Risiko, dass die Tranchen nicht hauchdünn, sondern etwas dicker geraten.
Die Crux liegt also am Flüssigkeitsgehalt und an der Art, wie man den Saft aus dem Fleisch ziehen kann – am besten (und seit ewigen Zeiten) eben durch Einsalzen und Austrocknen. In den alpinen Regionen der Schweiz wird Trockenfleisch seit Jahrhunderten so zubereitet: Bündner Fleisch, Viande sechée du Valais, Carne secca im Tessin und in den Bündner Südtälern, Dirrs im Urnerland. Das Prinzip ist stets gleich, das Resultat hängt von Art und Alter, Lebensweise und Verarbeitung der Tiere sowie der Salz- und Gewürzmischungen ab, die dafür verwendet werden – Metzgergeheimnisse.
Die Kurzversion: Salz-Gewürzmischung einmassieren, Fleisch je nach Grösse zehn Tage und länger ziehen lassen, waschen, in den Trockenraum hängen. Nach ein paar Monaten hat es gegen die Hälfte seines Frischgewichts verloren und kann angeschnitten werden.
Fleisch zu trocknen diente der Vorratshaltung. Fleischkonsum war auch hierzulande lange nicht so häufig wie heute. Erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs konnte man sich dank wirtschaftlichem Aufschwung mehr Fleisch leisten. Deshalb ist es einleuchtend, dass die Idee, mariniertes bzw. eingesalzenes Trockenfleisch anzuschneiden, bevor man es zum Trocknen aufhängte, kaum vor den 1970er-Jahren auftauchte. Der Geistesblitz traf den Wirt des Café-Restaurant d’Anniviers in Sierre und seinen Metzger, die beschlossen, das Fleisch in genau in diesem Stadium vor dem Trocknen fein aufzuschneiden und als lokale Variante des Fondue chinoise anzubieten. Das Fleisch hat etwas Flüssigkeit verloren und schmeckt akzentuierter als frisch ab Bank – man kann getrost auf all die Sösseli verzichten, die dem Fondue chinoise Konturen verleihen sollen. Das Gericht wurde dem Quartier Glarey zu Ehren «Fondue glareyarde» genannt und im März 2014 unter Markenschutz gestellt.
Die Kunde von diesem geschmacklich forcierten Fondue zog seine Bahnen, natürlich auch ins Val d’Anniviers, worauf sich der Name des Café-Restaurants in Glarey bezieht. So bieten auch dort, in diesem Tal mit seiner kulinarischen Exzentrik (wie Vin du glacier) Restaurants und Metzger ihr eigenes «Fondue anniviarde» an.
In der Deutschschweiz hat man das Fondue anniviarde noch nicht entdeckt. Aber Ludwig Hatecke, Metzger aus Scuol im Unterengadin, bietet eine eigene Version angetrockneten Trockenfleischs an, Carpaccio Engiadinais. Er reibt ein Stück Entrecôte mit einer Mischung aus Salz, weissem und schwarzem Pfeffer, Wacholderbeeren, Lorbeer und, als Ersatz für Nitritpökelsalz, Fenchel- und Rucolapulver ein und lässt es je nach Volumen 10 bis 15 Tage ziehen. Die Würzmischung wird weggespült, das Fleisch kurz angetrocknet.
Fleischgeschmack und Aromen sind ausgewogen, die Konsistenz ist geschmeidig und von zarter Eleganz. Dieses wunderbare Carpaccio Engiadinais kann man nicht nur in Hateckes Geschäften im Engadin geniessen, es wird auch in seiner Zürcher Bar und Boucherie am Löwenplatz angeboten.
Hatecke, Usteristrasse 12, Zürich
Salaisons Anniviers
Café-Restaurant d’Anniviers, Route du Simplon 44, Sierre
Wie die Nonne ins Caquelon kam
Wie die Nonne ins Caquelon kam
Stets zur Fonduesaison beginnen aufmerksame Menschen zu rätseln, warum in gewissen Regionen, insbesondere in der Westschweiz und in Savoyen, die Bodenkruste im Caquelon la religieuse genannt wird. Tatsächlich eine Merkwürdigkeit, denn religieuse heisst Ordensschwester.

Die Frage, wie eine Nonne als Bodenkruste im Caquelon enden kann, weckt unsanfte Gedanken. Der Dictionnaire historique de la langue française schreibt, dass religieuse «en français de Suisse» eine Bezeichnung (1944) für Kruste an der Käserinde beim Raclette sowie auf dem Caquelonboden sei, der Ursprung dieser Verwendung von religieuse indessen «obscure» bleibe. Dunkel ist auch das Kleid der Nonnen, deswegen, so der Dictionnaire, Vögel mit schwarz-weisser Federkombination «religieuses» genannt würden. So heisst der Beo auf Französisch Mainate religieux und wissenschaftlich Gracula religiosa (ja, mit G). Umgekehrt tituliert man die Trägerinnen von schwarzen Gewändern und weissen Hauben etwas despektierlich «Pinguine».
In der Deutschschweiz geht man mit dem halb caramelisierten Käse nicht inspirierter um, da heisst die Kruste im Dialekt Grossmueter. Geruch und Konsistenz der angehockten Käsemasse führen zu unerfreulichen Assoziationen. Aber auch komischen. So steht im Idiotikon, dem Schweizerdeutschen Wörterbuch, dass Grossmueter unter anderem als Synonym für «alte Frau» verwendet werde oder man eine «Falte, die beim Plätten der Wäsche aus Mangel an Sorgfalt entsteht», als Grossmüeterli bezeichnet (habe). Aber im Caquelon gibts kein Falten zu bügeln, nur verschrumpelten Käse auszukratzen.
Es muss an der Kruste selbst liegen. In ihr hat sich ein Universum zur Essenz verdichtet. Wie im Caquelon, so auch im Leben des Menschen: Diese Essenz wird nicht auf Bestellung serviert, man muss Geduld haben und sich durchkämpfen, bis man das Finale erreicht.
Und die Nonnen? Ihre Kämpfe verdunsten im Schweigen. Vielleicht ist man auf den Namen gekommen, um die Contenance am Tisch zu retten. Die einen mögen die Kruste, die andern verabscheuen sie. Das separiert schon einmal. Zwischen den Mögenden entbrennt oft ein Kampf um die Delikatesse. Dabei dient die Nonne als Schutzschild und mahnt zu stilvollem Benehmen – wer mag schon mit der Gabel Nonnen stechen?
Diese Hypothese führt auch nicht weiter, denn religieuse gibts nicht bloss im Fondue, sondern auch beim Raclette, wie Jacques Montandon in seinem Buch Le Valais à table schreibt: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hätten Ordensfrauen die Familien, die sie besuchten, gebeten, Essensreste für sie beiseite zu legen, insbesondere Käseabschnitte. Auch die zähe Aussenhülle des Laibs, die bei einem Raclette als ungeniessbar übrigbleibt. Durch eine Indiskretion habe man erfahren, dass die Nonnen mit diesen ausgeschabten «Schwarten» bemerkenswerte Gratins kochten. War die Käserinde etwa doch geniessbar? Versuche erwiesen sich als überzeugend, und so kam es, dass man selber ass, was vorher als «l’assiette aux religieuses» reserviert war, als Nonnenteller.
Grossmütter dagegen gelten nicht als Bettelschwestern. Also kann man in der Deutschschweiz kaum von einem Grossmueti-Täller ausgehen. Es herrscht weiterhin Unklarheit. In solchen Härtefällen zieht man sich am besten ins Reich der Sagen und Märchen zurück. Das Idiotikon weist einen Weg: «Alp-Mueter: mythisches Wesen, das als altes, buckliges Weibchen, nachdem die Sennen die Alp verlassen, in den Alphütten haust. Ein Jäger erblickte es einmal am Herd stehend mit Kochen beschäftigt, von Kobolden in Gestalt kleiner Tiere umtanzt, zu deren einem es sprach: Du, Hans-Chäsperli, chotz-mer Schmalz! Worauf derselbe Butter in Hülle und Fülle erbrach.»
Butter ist zwar noch keine Kruste, aber immerhin ein Anfang.
Auch ein Erbe soll weiterleben
Auch ein Erbe soll weiterleben
Ohne kulinarisches Erbe keine Cuisine du terroir. Vor zehn Jahren wurde das Inventar des kulinarischen Erbes der Schweiz präsentiert. Es lebt weiter und hat einige Anpassungen erlebt.

Die Schweizer Küche gibt es nicht. Es gibt unzählige Schweizer Küchen. So viele Kulturen, Regionen und Talschaften das Land diesseits und jenseits der Alpen geformt haben, so vielfältig wird gegessen und getrunken – ob nun die Rezepte auf Deutsch, Französisch, Italienisch oder Rätoromanisch geschrieben worden sind. Denn die Schweizer Küche ist, um einen Modebegriff der 1980er-Jahre zu verwenden, eine «Crossover-Küche», die innereuropäische «fusion» am Alpenriegel.
Abbild und Herz dieser Vielfalt ist das Inventar des kulinarischen Erbes der Schweiz. Es wurde im Auftrag des Bundes erstellt und am 9. Dezember 2008 im Haus der Kantone in Bern präsentiert. Basis dieses Erbes sind rund 400 Produkte, welche die Schweiz traditionell charakterisieren, hierzulande hergestellt, gekauft und konsumiert werden. Längst nicht alles ist in der Schweiz «erfunden» worden, doch zahlreiche Produkte haben Kraft der Umstände eine eigene Ausprägung erfahren. Manche wiederum drücken als «flagship species» Land und Landschaften ein Siegel auf – vor allem Käsesorten markieren den kulinarischen Prozess der Schweiz.
Wie rasch dieser Prozess verläuft, illustriert das kulinarische Erbe ebenso gut wie es die Tradition reflektiert: Nichts besitzt ein Ewigkeitszertifikat. Vor zehn Jahren gehörte die Saline de Bex noch der Waadt, mittlerweile hat der Kanton sein exklusives Salzrecht aufgegeben und die Saline de Bex wurde mit den Rheinsalinen, die den Rest der Schweiz mit Salz versorgen, zu Salines Suisses vereint. Andere Produkte haben seit 2008 ihr AOP- oder IGP-Siegel erhalten, was ihnen Schutz vor Nachahmung garantieren soll. So zum Beispiel die Genfer Wurst Longeole (IGP 2009), das Freiburger Safranbrot Cuchaule (AOP 2018), der St. Galler Bloder-Sauerkäse (AOP 2010), Glarner Alpkäse (AOP 2013), Appenzeller Siedwurst, Pantli und Mostbröckli (IGP 2018) – andere wie Absinthe du Val-de-Travers und Berner Zungenwurst, St. Galler Alpkäse, Boutefas oder Bois de Jura stehen auf der Kandidatenliste.
Auch spezifische inhaltliche Veränderungen gilt es laufend zu beachten. So wackelt das traditionelle Rezept der Tessiner Mortadella di fegato, weil die rohe Schweineleber, die in die Wurstmasse gegeben wird, manchmal Hepatitis-E-Erreger enthält und die Rindsleber, die als Ersatz dienen kann, nicht den gleichen Geschmack beiträgt wie eben Schweineleber. Andere Rezept erhalten einen anderen Drive dank neuer Quellen: So steht in «Ein schön Kochbuch 1559» aus der Küche der Churer Bischöfe, das im Winter 2014/15 auf einen Zürcher Estrich gefunden und dann transkribiert und publiziert wurde, das bislang älteste bekannte Rezept für Mailänderli: «Meilandische Biscotini».
Veränderungen und neue Informationen verlangen eine stete Aktualisierung der Einträge im kulinarischen Erbe, aber auch Neueinträge werden erarbeitet. Bei den Experten liegt eine Fiche über Fromages du Jura (die neben dem reglementierten Tête de Moine AOP die individuelle Hand der Käsereien verkörpern) zur Beurteilung und eine Fiche über Pferdefleisch wird derzeit erstellt.
Jubiläen reissen uns selten von den Sitzen – trotzdem lohnt es sich, wieder einmal einen Blick aufs kulinarische Erbe zu werfen, denn ohne traditionelles Handwerk für Tisch und Keller gäbe es nur eine magere Cuisine du terroir. Und die ist derzeit ja besonders gefragt.
Ohne kulinarisches Erbe keine Cuisine du terroir
Vor zehn Jahren wurde das Inventar des kulinarischen Erbes der Schweiz präsentiert. Es lebt weiter und hat einige Anpassungen erlebt.
Die Schweizer Küche gibt es nicht. Es gibt unzählige Schweizer Küchen. So viele Kulturen, Regionen und Talschaften das Land diesseits und jenseits der Alpen geformt haben, so vielfältig wird gegessen und getrunken – ob nun die Rezepte auf Deutsch, Französisch, Italienisch oder Rätoromanisch geschrieben worden sind. Denn die Schweizer Küche ist, um einen Modebegriff der 1980er-Jahre zu verwenden, eine «Crossover-Küche», die innereuropäische «fusion» am Alpenriegel.
Abbild und Herz dieser Vielfalt ist das Inventar des kulinarischen Erbes der Schweiz. Es wurde im Auftrag des Bundes erstellt und am 9. Dezember 2008 im Haus der Kantone in Bern präsentiert. Basis dieses Erbes sind rund 400 Produkte, welche die Schweiz traditionell charakterisieren, hierzulande hergestellt, gekauft und konsumiert werden. Längst nicht alles ist in der Schweiz «erfunden» worden, doch zahlreiche Produkte haben Kraft der Umstände eine eigene Ausprägung erfahren. Manche wiederum drücken als «flagship species» Land und Landschaften ein Siegel auf – vor allem Käsesorten markieren den kulinarischen Prozess der Schweiz.
Wie rasch dieser Prozess verläuft, illustriert das kulinarische Erbe ebenso gut wie es die Tradition reflektiert: Nichts besitzt ein Ewigkeitszertifikat. Vor zehn Jahren gehörte die Saline de Bex noch der Waadt, mittlerweile hat der Kanton sein exklusives Salzrecht aufgegeben und die Saline de Bex wurde mit den Rheinsalinen, die den Rest der Schweiz mit Salz versorgen, zu Salines Suisses vereint. Andere Produkte haben seit 2008 ihr AOP- oder IGP-Siegel erhalten, was ihnen Schutz vor Nachahmung garantieren soll. So zum Beispiel die Genfer Wurst Longeole (IGP 2009), das Freiburger Safranbrot Cuchaule (AOP 2018), der St. Galler Bloder-Sauerkäse (AOP 2010), Glarner Alpkäse (AOP 2013), Appenzeller Siedwurst, Pantli und Mostbröckli (IGP 2018) – andere wie Absinthe du Val-de-Travers und Berner Zungenwurst, St. Galler Alpkäse, Boutefas oder Bois de Jura stehen auf der Kandidatenliste.
Auch spezifische inhaltliche Veränderungen gilt es laufend zu beachten. So wackelt das traditionelle Rezept der Tessiner Mortadella di fegato, weil die rohe Schweineleber, die in die Wurstmasse gegeben wird, manchmal Hepatitis-E-Erreger enthält und die Rindsleber, die als Ersatz dienen kann, nicht den gleichen Geschmack beiträgt wie eben Schweineleber. Andere Rezept erhalten einen anderen Drive dank neuer Quellen: So steht in «Ein schön Kochbuch 1559» aus der Küche der Churer Bischöfe, das im Winter 2014/15 auf einen Zürcher Estrich gefunden und dann transkribiert und publiziert wurde, das bislang älteste bekannte Rezept für Mailänderli: «Meilandische Biscotini».
Veränderungen und neue Informationen verlangen eine stete Aktualisierung der Einträge im kulinarischen Erbe, aber auch Neueinträge werden erarbeitet. Bei den Experten liegt eine Fiche über Fromages du Jura (die neben dem reglementierten Tête de Moine AOP die individuelle Hand der Käsereien verkörpern) zur Beurteilung und eine Fiche über Pferdefleisch wird derzeit erstellt.
Jubiläen reissen uns selten von den Sitzen – trotzdem lohnt es sich, wieder einmal einen Blick aufs kulinarische Erbe zu werfen, denn ohne traditionelles Handwerk für Tisch und Keller gäbe es nur eine magere Cuisine du terroir. Und die ist derzeit ja besonders gefragt.
kulinarischeserbe.ch – patrimoineculinaire.ch –patrimonioculinario.ch
Warum isst man im Western immer Bohnen?
Warum isst man im Western immer Bohnen?
Leser C. F. schaut gerne Western. Irgend einmal ist ihm aufgefallen, dass immer Bohnen gekocht werden, in der Regel im Freien mit zerbeultem Blechgeschirr. Nun stellt er sich die Frage, warum eigentlich.

Getrocknete Bohnen sind billig, nahrhaft und dank hohem Proteingehalt gesund. Sie sind leicht und logistisch längst nicht so heikel wie etwa rohe Eier – deshalb sieht man in zerbeulten Blechtellern selten Spiegelei auf Bohnenbrei. Cowboys, Banditen und Siedlertrecks waren im 19. Jahrhundert zwischen Atlantik und Pazifik nicht viel anders unterwegs als Campingtouristen heute. Zwar in der Vergangenheit und nur auf der Leinwand, dafür nicht im Stau. Wer ohne feste Bleibe reist oder diese auf einklappbare Dimensionen verkleinert hat, muss praktisch denken. Die technischen Voraussetzungen, die Bohnen weich zu kochen, stellen keine speziellen Anforderungen. Mehr als Wasser und Salz braucht es nicht.
«Das Geniale am Western ist sein einfaches Rezept: Good guy meets bad guy – bad guy turns worse – showdown», schreibt Wolfram Knorr im Buch «Geschmack im Film» (Echtzeit Verlag). Und expliziert weiter: «Das lässt sich natürlich variieren, mit üppigen Zutaten versehen oder mit fremden kreuzen. Der Western ist die Volksküche des elektronischen Zeitalters.»
Mit verkochten Bohnen als Konstante. Es wäre kurios, müsste man als Zuschauer zwischen vier Fäusten für ein Halleluja und einem Hagel blauer Bohnen einem elaborierten Diskurs am Lagerfeuer folgen – etwa über die Eigenheiten von Roten und Schwarzen Bohnen aus amerikanischen Böden, unseren vertrauten europäischen Acker- oder Saubohnen, bis zu afrikanischen Mungobohnen oder ostasiatischen Adzukibohnen.
Über Bohnen muss man nicht parlieren. Oder kann man sich Clint Eastwood, den Stillen, als Teilnehmer eines Colloquiums über Raffinessen beim Bohnengenuss vorstellen? Doch eher als Mann, dem Essen egal und Bohnen wurscht sind.
Mögen Western bis ins Innerste ihres Genres die archaischen Seiten des Menschen beschwören, so sickern immer wieder Zeitgeist und ein Hauch von Moderne in die Szenarien. Der Wilde Westen wurde erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts gezähmt. Die Figuren brauchten dennoch nicht selber Bohnen zu pflücken und von Hand zu pullen.
Der amerikanische Bürgerkrieg löste 1861 eine gewaltige Nachfrage nach Dosennahrung aus, vor allem Schweinefleisch und Bohnen – zu dieser Zeit wurde eine Sorte als navy bean bezeichnet, weil sie zur kulinarischen Grundausstattung der amerikanischen Marine gehörte. Die Bohnensorte wurden in den USA und in Kanada angebaut, um die Konservenindustrie zu alimentieren.
Erfunden wurde die Konserve bereits 1804. Nicolas Appert präsentierte sie in Form luftdicht verschlossener Gläser und gewann 12000 Goldfrancs, die Napoleon ausgesetzt hatte, um neue Methoden zu entwickeln. 1810 ersetzte der Engländer Peter Durand das Glas durch Blech. 1817 führte ein anderer Engländer, William Underwood, die Konservendose in Nordamerika ein, um Austern und Hummer einzumachen und auszuführen. Die Büchsen wurden verbessert und 1866 mit einem Öffnungssystem versehen, so dass niemand mehr zu Hammer und Meissel greifen musste – lonesome riders inklusive.
Ob auch Clint Eastwood Konservendosen auf derart brachiale Art zu öffnen hatte, entzieht sich meiner Erinnerung. In Pferdeopern schenkt man der Kochkunst kaum Beachtung, nicht einmal im Italo-Western. Ihm zu Ehren trotzdem ein delikates Bohnengericht aus Italiens Küchen, fagioli alla fiorentina: weisse Bohnen gekocht mit Knoblauch, Rosmarin, Lorbeer, Salz, Pfeffer und Olivenöl. Auch wenn Sergio Leone Römer und nicht Toskaner war – Nachkochen empfohlen, Nachsicht erbeten.
Nasturtium der Nasenschinder
Nasturtium der Nasenschinder
Leicht scharfe, sattgrüne Wasserpflanze, die jeden Salat bereichert und schon allein ein Steak würzt.

Brunnenkresse enthält zwar fast nur Wasser, doch tritt in der geringen Hartsubstanz, die keine zehn Prozent ausmacht, Senföl mit deutlicher Schärfe auf. Besonders heftig, wenn man die Blätter zerreibt und daran riecht. Die Römer haben das so oft getan, bis sich der Namen «Nasiturtium» etabliert hat, Nasenschinder (oder, lautmalerisch leicht abgewandelt, Nasenfolter). In unseren Küchen kennt man vor allem die Gartenkresse, die man selber ziehen kann, und die Brunnenkresse, die sich dem «urban gardening» verweigert und auch nicht in der Badewanne gedeihen will.
Denn sie zieht frisches Quellwasser vor, saubere Bäche und Wasserlöcher und -gräben, die von Grundwasser gespeist werden und deshalb keine stehenden Gewässer sind. Die Blätter der Brunnenkresse liegen wie Seerosen auf dem Wasser, nur sind sie viel kleiner, aber doch grösser als die Blätter der Gartenkresse, die eher an Wasserlinsen erinnern, auch wenn sie lieber im Trockenen leben. Wie Brunnenkresse im Wasser wächst, hat der Zürcher Botanikprofessor Gustav Hegi in seinem monumentalen Werk «Illustrierte Flora von Mitteleuropa» präzis und detailliert beschrieben: «Wurzel frühzeitig schwindend, durch die wagrecht kriechende, reichlich mit versehene Grundachse ersetzt. Stengel am Grunde kriechend und wurzelnd, aufsteigend, seltener flutend, kantig. Laubblätter gefiedert, grasgrün und meist etwas fleischig; die untersten gestielt, mit breit elliptischen, ganzrandigen oder geschweift gekerbten Seitenblättchen und mit rundlichem, breit herzeiförmigem, grösserem Endblättchen.» Mir bleibt in bester Erinnerung, wie ich einmal mit der Hand durch einen Altarm-Tümpel am Rhein unterhalb Basel fuhr und jede Menge Brunnenkresse mitzog.
Diese «Blättchen» bereiten im Gaumen echtes Vergnügen. Mit dem Messer frisch und fein gehackt, über ein erstklassiges, gut gelagertes und sauber gebratenes Rindssteak streuen – Pfeffer braucht es keinen, Salz nur wenig, und schon gar keine Chimichurrisauce aus der Konserve. Wer kein Fleisch isst, bröselt gehackte Brunnenkresse auf ein Butterbrot, und Veganer vermischen sie, ebenfalls gehackt, mit Olivenöl und geben sie zu moralisch erträglicher Pasta. Der «Nasenschinder» harmoniert mit dem Steak allerdings so verführerisch, dass man dem Drang, zum Fleisch zurückzukehren, nur schwerlich widerstehen kann.
Brunnenkresse findet man in Städten auf dem Markt und in Spezialgeschäften. Zur Zeit eher selten, denn die Pflanze beschäftigt sich mit der Reproduktion und stellt Nachwuchs über Geschmack. Ab circa 2019 soll sich der «letzte professionelle Brunnenkresse-Betrieb in ganz Mitteleuropa» zumindest vorsichtig Publikum öffnen. Gustav Hegi hat in seinem Werk, das von 1906-1931 erschienen ist, diesen Betrieb «bei Olten in der Schweiz» etwas vage erwähnt. Das Ehepaar Motzet kultiviert seine Brunnenkresse in der Region Wynau/Roggwil, und dies seit 1905 in dritter Generation. Nun kommt die Pensionierung, eigener Nachwuchs steht nicht bereit, und so wird der mit 28 Becken, 25 Tonnen Ertrag und viel ökologisch wertvollem Umland von Wässermatte bis Biberbau gesegnete Betrieb in eine vielschichtige Trägerschaft mit Pro Natura, Stiftung Wasserland Oberaargau und diversen öffentlichen und privaten Händen überführt.
Eine Frage der Identität
Eine Frage der Identität
Wer war zuerst da? Wer ist berühmter, älter, besser? Bemerkungen zu David und Goliath auf dem Käsebuffet – Sbrinz und Parmigiano.

Der Besuch bei Peck in Milano liegt lange zurück. Das Ess- und Trinkparadies in der lombardischen Metropole hat sich seither vor allem digital ausgebreitet. Trotz all der schönen Bilder und fein formulierten Verlockungen auf Internet hält sich in meiner Erinnerung immer nur das eine Bild: der Blick in die Käsetheke, wo sbrinzo angeboten wurde. Nicht einfach so – sondern sauber nach Alter wie Wein nach Jahrgang. Sbrinzo due anni, tre anni, cinque anni.
An eine vergleichbar edel assortierte Auslage in der Schweiz kann ich mich nicht erinnern. Umso gepflegter wird hierzulande Parmesan angeboten.
Etwa zur gleichen Zeit, Ende 90er-Jahre, degustierten wir für die SonntagsZeitung bei Beat Caduff im Hotel Anita in Arosa eine Selektion prämierter Käse. Als Juror dabei war Affineur Rolf Beeler. Der Maître Fromager erzählte, wie beliebt Sbrinz in Italien sei. Man habe ihm oft gesagt, der Schweizer Extrahartkäse schmecke besser als der heimische Parmesan – Reggiano DOP oder nicht. Das Lob mag Freundlichkeit mit Euphorie zu kleiden versuchen. Die Produzenten diesseits der Alpen freut’s natürlich. Was Schweizer Konsumenten nicht wahrhaben wollen, wissen Italiener schon lange.
Doch lassen sich die beiden Monumente regionaler Käsekultur überhaupt vergleichen? Mengenmässig verhält es sich wie Goliath zu David, da sticht der Klotz aus der Emilia Romagna den Innerschweizer Bruder 80:1 aus, knapp 130000 Tonnen gegen 1600 Tonnen im Jahr.
Und nach sensorischen Kriterien? Da steht’s Remis – denn schliesslich stehen sich zwei Manifeste gegenüber. Die kann man nicht messen, da geht’s um Identität. Sie beginnt bei den Ursprüngen des Käsens und gewinnt Bedeutung als kulinarisches Erbgut durch die Verbreitung, durch den Handel. Erst wenn das Produkt auch anderswo geschätzt ist, lässt sich sein Wert steigern. In digitalen Zeiten sieht das so aus: Auf der Seite parmigianoreggiano.com wird der Inhalt in 20 Sprachen angeboten, auf der Seite sbrinz.ch in vier.
Wer das Käsen erfunden hat, weiss man nicht. Es ist nicht einmal klar, ob der Vorgang, wie Milch (von welchem Säuger auch immer) in Feststoffe und Wasser getrennt wird, sich geografisch verorten lässt oder ob er in verschiedenen Regionen der Welt stets von neuem beobachtet und nachgeahmt wurde. Das britische Lexikon The Oxford Companion to Cheese vermutet den Ursprung des Käsens im 7. Jahrtausend vor Christus in Anatolien. In der gleichen Region sollen im 2. Jahrtausend vor Christus die Hethiter die Lab-Methode herausgefunden haben. Ob mit pflanzlichem oder tierischem Lab, bleibt ein Mysterium.
Das Käsen hat sich also vom «Fruchtbaren Halbmond» am östlichen Mittelmeer westwärts verbreitet und die antiken Bauern Ägyptens, Griechenlands und Roms befeuert. Der Schriftsteller Columella, aus dem heutigen Spanien stammend, hat in seinem Werk Res Rustica eine präzise Beschreibung der Methode verfasst und mit einigen Food Pairings garniert. Weitere römische Autoren nannten von diversen Landwirtschaftsprodukten die Regionen, wo die besten gedeihen. Zum Beispiel Feigen, Oliven, Weintrauben, Birnen. Zu dieser Geburtsstunde detaillierter AOP-IGP-Bezeichnungen gehört auch der Käse. Die Reputation war von der Herkunft abhängig. Man schätzte Käse aus Umbrien, Ligurien und riesige Laibe aus Etrurien, dem Kerngebiet der Etrusker.
Auch von Caseus gallicus war die Rede. Und Kaiser Antonius Pius soll sich im Jahr 161 mit Unmengen von caseum Alpinum den Magen verdorben und kurz darauf das Zeitliche gesegnet haben. War dieser Alpenkäse ein Vorläufer des Sbrinz? Oder des Parmigiano? Ziemlich sicher weder-noch. Degustationsmuster oder –notizen sind nie gefunden worden. Logischer scheint, dass der Parmigiano der ältere der beiden Extraharten ist – die Menschen haben die Berge von der Ebene her besiedelt und nicht vom Himmel her.
Die Ursprünge des Parmigiano werden im 13. Jahrhundert in Benediktiner- und Zisterzienserklöstern in der Region um Parma vermutet. Im 14. Jahrhundert hat der Dichter Boccaccio in seinem Werk Decamerone einen Berg aus geriebenem Parmesan beschrieben, auf dem Leute standen und Pasta machten. Laut Quellen wird Parmesan seit 800 Jahren fast unverändert erzeugt.
Der Ursprung des Sbrinz ist nicht genau bekannt. Die erste Erwähnung von Brientzer käss und Unterwaldner käss stammt von 1530 und liegt im Berner Staatsarchiv. In dieser Urkunde geht es nicht um Ursprung, sondern um Handel. Brientzer und Unterwaldner käss wurden von Brienz aus via Grimsel- und Griespass nach Oberitalien transportiert. Sbrinz kann durchaus älter sein. Vielleicht doch ein Nachfahre des caseus Alpinus? Oder gar eine Variante des caseus gallicus? Schön wärs. Aber nicht zwingend.
Niemand weiss, wie die Käse einst geschmeckt haben. Sie haben sich gewiss vielfältiger unterschieden als heute. Die Nachfrage bestimmte mit der Zeit den Geschmack. Die Händler rapportierten den Käsern, welche Laibe den Kunden am besten gefallen hatten. Und so lassen sich Sbrinz und Parmigiano, die beiden Brüder diesseits und jenseits der Alpen, heute gut unterscheiden.
Der Parmesan enthält weniger Fett und mehr Salz als der Sbrinz, auffallend ist eine leichte Säure im Geschmack. Das Aroma des Sbrinz ist vollmundiger, die Struktur trotz zunehmender Brüchigkeit mit den Jahren kompakt. Parmesan zerbröselt früher und schneller als Sbrinz.
Welcher ist besser? Über Vorlieben und Abneigungen lässt sich gut streiten. Das einzige Kriterium, das sich exklusiv zugunsten des Parmigiano ins Feld führen lässt, sind unstatthafte Begehrlichkeiten: «Parmesan ist ein lukratives Diebesgut», schrieb die NZZ. 2014 und 2015 wurden über 15’000 Stück von professionellen Banden aus den Kellern gestohlen. Da kommt etwas zusammen. Ein Laib Parmigiano Reggiano kostet je nach Qualität und Reifegrad 300 bis 450 Euro.
Aufwärmen zur Genusswoche 2017
Aufwärmen zur Genusswoche 2017
Neuchâtel präsentiert sich als Ville du Goût, assistiert als Parrain von Claude Frôté, Restaurant La Bocca in Saint-Blaise (1 Stern, 16 Punkte).

Im prachtvollen mittelalterlichen Weinkeller im historischen Museum von La Neuveville hat Josef Zisyadis, ehemaliger Nationalrat, derzeitiger Co-Präsident von Slow Food Schweiz und begnadeter Gourmet vor dem Herrn, die Semaine du Goût alias Genusswoche eingeläutet. Die Woche der kulinarischen Freuden findet vom 14. bis 24. September 2017 in der ganzen Schweiz statt.
Der geeichte Politiker brauchte nicht viele Worte, um Sinn und Zweck der Genusswoche zu erklären. Immerhin findet sie zum 17. Mal statt und hat sich sogar in der gastronomisch eher genusslahmen Deutschschweiz herumgesprochen. Anders als einst oft im Parlament, sprach Zisyadis zu Gleichgesinnten, zu Menschen, die mit Essen und Trinken von Haus aus und von Berufes wegen so vertraut sind, dass ihnen das Anliegen des Initiators der Genusswoche nicht lange erklärt werden muss: Unser Essen ist gefährdet.
Je industrieller die Lebensmittelproduktion wütet, desto ungesunder wirkt sich die Nahrung auf Körper und Seele aus. Es gelte dringend, mahnt die Charta der Genusswoche, «die Vielfalt der in unserem Land vertretenen Geschmäcke und Ernährungskulturen aufzuwerten, die Traditionen zu erhalten und die kulinarischen Innovationen zu begünstigen, das handwerkliche Können zu pflegen und anzuerkennen, die lokale und nachhaltige Produktion zu fördern».
Das klingt vernünftig und so selbstverständlich. Ist es aber längst nicht mehr. Zwischen den Barriques, in denen sein frischer Chardonnay La Neuveville ruht, während der Jahrgang 2014 ausgeschenkt wird, knurrt Claude Frôté zu den Umstehenden: «Hunde werden heute besser ernährt als Kinder.» Noch übler als Wolfskarikaturen im Autokissenformat ergeht es Jungvögeln in der domestizierten Wildnis – ihnen bekommt das Fastfood schlecht, das von einer übersättigten Bevölkerung weggeworfen wird. «Jungvögel, die mit Pommes frites, Spaghetti und anderen Essensresten gefüttert werden, erhalten zu wenig Protein, das für ihr Wachstum entscheidend ist», erklärte dieser Tage die Vogelwarte Sempach die Resultate einer Untersuchung mit Dohlen in Murten. Die Dohlen legen kleinere Eier, aus denen geringere Küken schlüpfen – mit geschrumpften Lebenschancen.
Lassen sich solche Erkenntnisse auf den Menschen übertragen? Nun, Tierbeobachtungen führen zu vielfältigen Erkenntnissen, sonst gäbe es längst keine Tierversuche mehr. Die Geschichte mit den convenience gefütterten Vögeln ist nur ein Indiz unter vielen, das unterstreicht, wie wichtig es ist, sich um die Ernährung zu kümmern. Deshalb hat Zisyadis die Semaine du goût 2000 ins Leben gerufen, zehn Jahre nach Beginn des französischen Vorbilds.
Eine Woche lang sollen Denken und Werken ums Essen kreisen. Restaurants bieten besondere Menüs an oder setzen die Preise für junge Leute herunter. Spitzenköche demonstrieren Kindern die Unterschiede des Geschmacks – so hat etwa der verstorbene Maître de Cuisine Philippe Rochat in Crissier mit Primarschülern Rüebli degustiert und gezeigt, was charakteristischer Geschmack bedeutet und was gar keiner ist. Man sollte zumindest einmal im Jahr in Ruhe über den Wochenmarkt schlendern und stressfrei einkaufen. Man kann sich über kulinarische Berufe vom Landwirt bis zur Tortenkünstlerin kundig machen. Oder während dieser einen Woche auf jeder Verpackung das Kleingedruckte lesen und sich zu Gemüte führen, welche E-Nummern wir uns Tag für Tag einverleiben.
Die Schweiz ist kein billiges Land, aber in keinem andern Land ist die Ernährung im Vergleich zu den Einkommen so günstig wie hier. Essen soll wieder an Wert und Wertschätzung gewinnen, verlangt die Charta der Genusswoche. Das Geschäft mit elektronischem Schnickschnack gedeiht, während die Gastronomie schon seit Jahren serbelt. Gute Küche und gesundes Essen soll wieder ein Bedürfnis werden.